Crowdwriting-Aktion „Briefe an den Chef“

„Falsche Wertschätzung ist schlimmer als fehlende“

„Schreibt eurer Chefin oder eurem Chef einen Brief – und schickt ihn uns.“ Mit diesen Worten hatte das Team vom Zukunftslabor CreaLab, einem Kreativitätsnetzwerk der Hochschule Luzern, eine Crowdwriting-Aktion gestartet. Eingesendet wurde eine Fülle von Briefen, die emotionale Einblicke in die Beziehungen von Mitarbeitenden zu ihren Führungskräften gewähren. Im Interview liefern drei Teammitglieder einen Blick aufs Ergebnisbild und hinter die Kulissen der Aktion.

Ein Beitrag von Andree Martens

Mit ihrer Aktion wollten Sie ein Schlaglicht auf die besondere Beziehung zwischen Mitarbeitendem und Führungskraft werfen. Welches Bild hat sich ergeben?

Patricia Wolf: Ein sehr differenziertes. Die Gefühle, die in den Briefen ausgedrückt wurden, sind extrem vielfältig und nuanciert. Man denkt ja immer, alle anderen würden genauso empfinden wie man selbst – unsere Ergebnisse zeigen, wie sehr man sich da irren kann. Es ist eben nicht so, dass die Mitarbeitenden ihren Führungskräften überall die gleichen oder ähnliche Gefühle entgegenbringen, es überall vergleichbare Beziehungen gibt.

Christine Larbig: Dass das Ergebnisbild so differenziert ausgefallen ist, hängt vor allem damit zusammen, dass die Briefautorinnen und -autoren mit dem Thema extrem selbstreflexiv umgegangen sind. Sie haben ganz offensichtlich nicht einfach drauflosgeschrieben, sondern sich Gedanken gemacht. Und zwar nicht nur über ihre Führungskraft, sondern auch über ihre eigene Rolle in der Beziehung zu dieser. Natürlich gibt es auch einzelne Briefe, in denen wenig Selbstreflexion deutlich wird, in den meisten ist das Maß an Selbstreflexion jedoch sehr hoch.

Trotzdem gibt es doch sicher bestimmte Gefühle, die eine besondere Rolle spielen, wenn man die eingegangenen Briefe in der Gesamtheit betrachtet …

Ursina Kellerhals: Viele Briefe zeigen Enttäuschung, in unterschiedlicher Ausprägung. Die dazugehörigen Geschichten erzählen vor allem von nicht erwiderter Loyalität und Scheinwerten, also Werten, die zwar propagiert, aber intern alles andere als gelebt werden. Aber auch positive Gefühle wie Dankbarkeit werden ausgedrückt – dafür, als Mensch wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden, fürs Zuhören, Ernstnehmen, Rückenfreihalten … Aber, wie gesagt, letztlich sind die ausgedrückten Gefühle doch sehr individuell.

Welche inhaltlichen Schlüsse zu der Beziehung zwischen Mitarbeitendem und Führungskraft ziehen Sie aus den Ergebnissen?

Christine Larbig: Gute Beziehungen entstehen vor allem dann, wenn die Führungskraft den Mitarbeitenden das – berechtigte – Gefühl gibt, einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Organisation zu leisten. Diese emotionale Form der Wertschätzung setzt ungeahnte Kräfte frei. Ich sage bewusst emotionale Wertschätzung, und zwar auch im Sinne von echter Wertschätzung. Worthülsen werden rasch erkannt. Das war auch eines der zentralen Themen in den Briefen. Eine als falsch enthüllte Wertschätzung ist schlimmer als fehlende.

Ursina Kellerhals: Gerade in einer Zeit, in der sich so Vieles so rasch und fundamental wandelt, ist emotionale Intelligenz in der Führung extrem wichtig. Die Briefe zeigen sehr schön, wie stark diese mit Vertrauen in Mitarbeitende, Mut und Rückgrat verbunden ist. Einige Briefe driften auch in Sarkasmus ab, weil eben die dazugehörige allgegenwärtige Leadership-Theorie und das, was seitens der Führungskräfte in der Realität erlebt wird, so krass auseinanderklafft. Aber um nicht nur schwarz zu malen: Es haben uns auch durchaus positive Texte erreicht, die aufzeigen, wie viel Energie und ja auch Glück durch eine positive Beziehung zur eigenen Chefin oder zum eigenen Chef freigesetzt werden kann.

Zur Gestaltung von Beziehungen gehören aber immer mindestens zwei …

Christine Larbig: Das stimmt. Natürlich sind auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich für die Qualität der Beziehung zu ihren Chefinnen und Chefs. Viel bewirkt es oft schon – das wird in den Briefen sehr deutlich – wenn sich die Mitarbeitenden den Gefühlen, die sie ihrer Führungskraft entgegenbringen, stellen und sich mit diesen auseinandersetzen. Je klarer sie sich ihrer entsprechenden Gefühle sind, desto mehr Möglichkeiten haben sie, die Beziehungsqualität zu verbessern. Allein schon insofern, dass sie der Führungskraft dann besser signalisieren oder klarer sagen können, was sie sich von ihr wünschen, was sie erwarten oder auch mit welchem Verhalten sie nicht gut umgehen können. Unsere eigenen Gefühle sind der beste Zugang zu uns selbst – zu unseren Erwartungen, Werten, Prinzipien –, den wir haben. Meistens nutzen wir ihn aber viel zu wenig. Das ist uns bei der Auswertung der Briefe noch einmal sehr klar geworden und hat auch mit uns selbst etwas gemacht: Wir alle haben angefangen, mehr über unsere eigenen Gefühle im Arbeitskontext nachzudenken. Selbst unserer Lektorin ging das so, die die Entstehung unseres Buches über die Aktion betreut hat.



Die Ergebnisse hätten Sie aber auch einfacher haben können. Warum haben Sie die Menschen nicht einfach nach ihren Gefühlen gefragt, die sie ihren Führungskräften entgegenbringen?

Ursina Kellerhals: Uns ging es darum, über das Schreiben als kreative Handlung an tieferliegende Beobachtungen und Erfahrungen heranzukommen. In einem Interview – wie sie ja auch in Mitarbeitendenzufriedenheitsstudien durchgeführt werden – kommt man solchen unterschwelligen Gefühlen und Wahrnehmungen selten auf die Spur.

Christine Larbig: Und wenn man ihnen in sozialwissenschaftlichen Studien doch auf die Spur kommt, büßen sie meist ihren besonderen Charakter ein. Die Darstellung von Emotionen und immanenten Erwartungen in Bulletpoints spricht unser Gehirn nicht emotional an und lässt uns kalt. Eine solche Darstellung würde – außer ein paar Fachexperten – kaum einen interessieren. Außerdem ist der Kontext sehr wichtig, um etwas zu verstehen bzw. sich damit auseinanderzusetzen. In den Briefen wird dieser Kontext geliefert – mittels Geschichten, Erfahrungen und Reflexionen, die unser Gehirn ansprechen und das Projektergebnis erlebbar machen. Deshalb haben wir auch nicht nur Auszüge der Briefe, sondern 30 Briefe in unserem Buch komplett veröffentlicht.

Werden Sie an der Crowdwriting-Aktion noch einmal anknüpfen?

Ursina Kellerhals: Die Perspektive ist ja mit Briefen an Führungskräfte sehr einseitig. An sich ist es unsere Aufgabe, nun auch „Briefe an die Mitarbeitenden“ in Angriff zu nehmen. Ein Brief in der Sammlung ist zufälligerweise schon mit dieser Sichtweise geschrieben. Auch dieser Text gibt einen guten Einblick, wie vielschichtig die Gefühlslagen – und auch Abhängigkeiten – auf der anderen Seite der Dyade Mitarbeitende-Chefin ist.

********



Das Team des CreaLab hat 30 der – natürlich anonymen – Briefe, die es im Rahmen der Crowdwriting-Aktion erreicht hat, samt den dazugehörigen Inhaltsanalysen im Buch „Briefe an den Chef“ veröffentlicht.

Foto 1 – Die Mitglieder des CreaLabs von links nach rechts: Ute Klotz, Patricia Wolf, Christine Larbig, Ursina Kellerhals und Jens Meissner. Foto 2 – Fruzsina Korondi, die Grafikerin des Crea-Lab-Teams, hat die Auswertung der Emotionen als Landschaft visualisiert.

06.11.2019
Wir setzen mit Ihrer Einwilligung Analyse-Cookies ein, um unsere Werbung auszurichten und Ihre Zufriedenheit bei der Nutzung unserer Webseite zu verbessern. Bei dem eingesetzten Dienstleister kann es auch zu einer Datenübermittlung in die USA kommen. Ihre Einwilligung bezieht sich auch auf die Erlaubnis, diese Datenübermittlungen vorzunehmen.

Wenn Sie mit dem Einsatz dieser Cookies einverstanden sind, klicken Sie bitte auf Akzeptieren. Weitere Informationen zur Datenverarbeitung und den damit verbundenen Risiken finden Sie hier.
Akzeptieren Nicht akzeptieren
nach oben Nach oben