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Beitrag von Sandra Dundler aus managerSeminare 331, Oktober 2025
„Fokussiere dich auf deine Stärken!“ – dieser Satz ist in Führung, Coaching und Personalentwicklung zum Mantra geworden. Was einst als wohltuender Impuls gegen defizitorientierte Sichtweisen gedacht war, hat sich heute zu einem einseitigen Entwicklungsdogma ausgewachsen, das seine Kehrseite hat. Denn wer ausschließlich auf seine Stärken setzt, läuft Gefahr, sich selbst auszubeuten, sich in der bequemen Komfortzone auszuruhen oder sogar in die Schwäche abzurutschen.
Ein Beispiel: Bereichsleiterin Julia ist für ihre analytische Stärke bekannt. Sie durchdringt komplexe Zusammenhänge mit Leichtigkeit, denkt strategisch, wägt sorgfältig ab. Ihre Entscheidungen sind durchdacht – daher selten schnell. Im Veränderungsprozess tut sie sich schwer, da der Zeitdruck steigt. Während andere Teams bereits in der Umsetzung sind, arbeitet Julias Abteilung noch an der perfekten Entscheidungsgrundlage, denn alles muss über ihren Tisch und gegengecheckt werden. Die ersten in ihrem Team werden ungeduldig, Stakeholder betrachten das kritisch. Die Analyse – sonst ihre Stärke – ist zum Bremsklotz für den ganzen Bereich geworden. Ein weiteres Beispiel: Cecil ist überall dabei. Er liebt seinen Job, liebt Herausforderungen, sagt selten Nein. Ob Strategie-Workshop, Produktlaunch oder Krisensitzung – Cecil wird immer eingeplant. Weil er schnell denkt, viel trägt und alles gleichzeitig jonglieren kann. Was lange wie eine Superkraft wirkt, kippt langsam ins Gegenteil. Cecil hetzt von Meeting zu Meeting, antwortet auf Mails im Gehen, denkt in Halbsätzen. Er verliert den Überblick, wird unkonzentrierter, müder. Doch aufhören? Keine Option. Schließlich liebt er, was er tut. Gerade das macht es so tückisch: Aus Engagement wird Getriebenheit. Aus Flexibilität Überforderung. Und Cecil selbst? Merkt es zuletzt.
Solche Fälle sind keine Ausnahmen. Sie sind Alltag in vielen Organisationen. Denn was in der einen Situation hilfreich ist, kann in einer anderen zur Belastung werden. Analytisches Denken kann zum Bedenkenträgertum werden. Entscheidungsfreude zu Dominanz. Sorgfalt zur Pedanterie. Grenzenloses Engagement kann unbemerkt in Erschöpfung umschlagen. Was als Stärke gefeiert wird, kann – übertrieben oder falsch eingesetzt – genau das Gegenteil bewirken. Dabei ist es gar nicht die Stärke selbst, die zum Problem wird, es ist vielmehr das blinde Vertrauen in sie. Wenn Menschen sich zu sehr mit ihren Stärken identifizieren, verfestigt sich ein statisches Selbstbild: „Ich bin halt so.“ Doch Entwicklung beginnt mit der Fähigkeit, sich von solchen Zuschreibungen zu lösen. Nur, wer bereit ist, das eigene Handlungsrepertoire zu hinterfragen, kann es erweitern.
Besonders tückisch ist, dass der Begriff „Stärke“ selbst selten hinterfragt wird. Was genau meinen wir, wenn wir von einer „Stärke“ sprechen? Eine Kompetenz? Ein Persönlichkeitsmerkmal? Eine Verhaltenspräferenz? Tatsächlich meinen viele etwas Positives, das „zu uns gehört“ – und das es zu fördern gilt. Doch gerade diese unreflektierte Positivzuschreibung verhindert differenziertes Denken. Denn jede Stärke ist auch ein Ausdruck innerer Motive. Und Motive sind per se weder gut noch schlecht. Sie entfalten ihre Wirkung immer erst im Kontext.
Deshalb ist es sinnvoll, Stärken nicht isoliert zu betrachten, sondern im Zusammenspiel mit den dahinterliegenden Motiven, inneren Antreibern und dem jeweiligen Kontext. Denn scheinbare Stärken sind oft eng mit potenziellen Übertreibungen verknüpft. Wer ein starkes Bedürfnis nach Einfluss und Gestaltung hat, kann viel bewegen – oder das Team überfordern. Wer Sicherheit schätzt, sorgt für Stabilität – oder blockiert Wandel. Entscheidend ist nicht das Merkmal an sich, sondern der bewusste und situativ angemessene Umgang damit.
Gerade in der VUCA-Welt, in hybriden Arbeitsstrukturen und sich schnell wandelnden Märkten braucht es mehr als Stärken. Es braucht ein inneres Navigationssystem. Das gilt ganz besonders für Führung. Denn sie ist weniger eine Frage von „Was kann ich gut?“ als von „Was braucht die Situation von mir?“. Diese situative Differenzierungsfähigkeit ist der wahre Schlüssel zu wirksamer Führung. Führungskräfte, die sich ihrer Wirkung bewusst sind, wissen: Es reicht nicht, sich auf das zu verlassen, was man gut kann und was das eigene Belohnungssystem aktiviert. Es braucht die Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Justierung, zur bewussten Steuerung. Wer diese beherrscht, erkennt frühzeitig, wann eine Qualität kippt – und kann gegensteuern.
Nicht selten braucht es dafür aber auch einen Impuls von außen. Wir fühlen uns alle besonders dann angegriffen, wenn wir aufgrund von etwas kritisiert werden, das wir als unsere Stärke betrachten. Doch zu einer reflektierten Führungskraft gehört auch die Bereitschaft, unangenehme Rückmeldungen nicht als Angriff, sondern als Entwicklungsimpuls zu betrachten. Denn echtes Wachstum entsteht nicht aus einem ewigen Sich-selbst-Bestärken – sondern aus dem mutigen Hinterfragen der eigenen Wirkung, aus der Bereitschaft, sich nicht nur auf die „guten Seiten“ zu fokussieren, sondern auch auf das, was stört, hemmt oder im Schatten wirkt.
Die gute Nachricht: Diese Art der Selbstentwicklung ist erlernbar. Sie beginnt mit einem Perspektivwechsel – weg vom Denken in festen Eigenschaften hin zu einem Verständnis von Verhalten als situativ steuerbarem Ausdruck innerer Motive. Wer erkennt, wie stark die eigene Wirkung vom Kontext abhängt, gewinnt Handlungsfreiheit. Und wer bereit ist, nicht nur auf seine persönlichen Lieblingsfähigkeiten zu setzen, sondern auch die eigenen Entwicklungsfelder zu umarmen, eröffnet sich neue Spielräume – persönlich wie beruflich. Mehr noch: Diese Haltung verändert nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Organisation. Wenn Führungskräfte anfangen, über ihre Schattenseiten zu sprechen, entsteht psychologische Sicherheit. Wenn in Teams nicht nur gefragt wird „Was kannst du gut?“, sondern auch „Wo übertreibst du manchmal?“, entsteht ein Klima echter Entwicklung. Organisationen, die das fördern, schaffen einen Raum, in dem nicht Perfektion, sondern Reife zählt. Und das ist die Basis für nachhaltige Transformation.
Aber bitte nicht falsch verstehen: Es geht nicht darum, Stärkenorientierung abzulehnen, ganz im Gegenteil, sie ist wertvoll. Arbeiten wir in unseren Stärken, kostet uns dies weniger Energie, als uns auf Schwächen zu konzentrieren, und der Impuls aufs Belohnungssystem erhöht die Motivation. Doch Stärkenorientierung braucht ein Gegengewicht: kritisches Denken, auch über sich selbst, Feedbackkultur, Mut zur Auseinandersetzung. Nur so entsteht ein ganzheitliches Entwicklungsverständnis, das Persönlichkeitsreifung wirklich ermöglicht. Denn echte Stärke zeigt sich nicht im unkontrollierten Ausleben der eigenen Motive, sie zeigt sich im bewussten Umgang mit ihnen.
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