Agile HR Conference 2019

Energie für erschöpfte Pioniere

Am 8. und 9. Mai 2019 trafen sich Selbstorganisations-Pioniere, agile Vorreiterinnen und entschlossene Arbeitsveränderer aus großen und kleinen Unternehmen zum Erfahrungsaustausch in Köln: Das Kölner Beratungskollektiv der HR Pioneers hatte zum achten Mal zur Agile HR Conference (AHRC2019) geladen.

Ein Beitrag von Sylvia Lipkowski

„Agile Transformation ist wie ein Marathon: Eine Mischung aus Qual und Faszination.“ Mit diesem Vergleich bringt Gastgeber und Chef-Pioneer André Häusling schon in seiner Einleitung das zentrale Thema auf den Punkt, das sich wie ein roter Faden durch die AHRC2019 ziehen wird: Agilität ist toll – aber auch unglaublich anstrengend. Das wird in fast allen der 23 Beiträge in der einen oder anderen Form deutlich.

Beispielsweise bei Thorsten Heilig von der moovel Group, einem Tochterunternehmen von Daimler und BMW. Der Chief Operating Officer (COO), der seit Jahren in dem Corporate Startup arbeitet, meint, dass Agilität soviel von uns verlangt, dass wir uns irgendwann automatisch immer fragen: „Warum machen wir das alles eigentlich?“ Und er gibt auch gleich die Antwort: wegen VUKA natürlich. Das ist zwar wenig überraschend – dass er daran erinnert, ist trotzdem wichtig. Denn nur wenn wir uns dies immer wieder auf Neue vergegenwärtigen, werden wir verstehen, warum wir Agilität entwickeln und pflegen müssen, ist sich Heilig sicher. Und nur dann werden wir die notwendige Kraft und Disziplin finden, um den agilen Marathon samt aller Hürden auf dem Weg dahin meistern zu können.

Hürden nämlich gibt bei jeder Agilisierung unausweichlich und in großer Zahl. Wie vielseitig sie sind, wird in vielen der Workshops deutlich, in denen Praktiker von den täglichen Mühen des agilen Seins ebenso berichten wie von unangenehmen Erkenntnisprozessen und unerwarteten Fallstricken. Die können zum Beispiel in Form urmenschlicher Ängste auftreten, wie Marco Luschnat in seiner Session berichtet. Er ist Gründer und Geschäftsführer der Werbeagentur Ministry Group, die, wie er selbst sagt, als „so eine Art Rockstar der agilen Szene“ gilt. Sehr offen erzählt der Betriebswirt, wie es ihm und seinem agilen Team erging, als die Agentur zum ersten Mal in finanzielle Schieflage geriet und Existenzängste sich breit machten. „Ich war schockiert, wie schnell alles in Frage gestellt und nach einer starken Führung gerufen wurde“, so Luschnats unangenehme Erkenntnis.

Neben den Befindlichkeiten der Beteiligten können sich aber auch Gruppendynamiken als Agilitätshindernisse erweisen, wie die Personalentwicklerinnen Anne Grobe und Tanja Brunnecker vom Online-Finanzinstitut comdirect erlebt haben: Mit ihrem achtköpfigen Team der Abteilung Personalentwicklung und Talentmanagement ließen sie sich auf ein agiles Experiment ein, um das sechsmonatige Sabbatical der Leiterin Anne zu überbrücken. „Wir dachten, wir reden mal nicht nur von Selbstorganisation, sondern machen sie einfach“, beschreibt Grobe die naive Euphorie, die zum Entschluss führte.

Ganz so einfach war das dann nicht, wie im schonungslosen Bericht der beiden HR-Profis, der bisweilen spannend wie ein Krimi ist, deutlich wird. Denn schnell wird ihnen klar: Mit dem Experiment Selbstorganisation haben sie etwas losgetreten, was sich nicht mehr einfangen lässt. Denn durch die Selbstorganisation ändert sich einiges: das Selbstverständnis der Kollegen etwa, die Dynamiken im Team und sogar das Standing der Abteilung im Unternehmen. Vor allem aber ändern sich die Erwartungen an die Chefin, die davon bei ihrer Rückkehr nach Quickborn völlig kalt erwischt wird. Einfach wieder ihre Aufgaben zurückbekommen und in dem frisch empowerten Team da weitermachen, wo sie vor ihrer Auszeit aufgehört hatte, wie ursprünglich geplant? Undenkbar.

Besonders allgegenwärtig in Köln sind zudem die Hürden struktureller Art. Sie werden besonders in den Sessions der großen Unternehmen wie OTTO, der Deutschen Bahn Akademie oder SAP thematisiert. Funktionale Silos beispielsweise machen eine durchgängige Kundenorientierung unmöglich, die Verknüpfung von Karriere mit Statussymbolen führt zu Verlustängsten und Widerständen gegenüber Veränderungen, Hierarchien wiederum sorgen für lange Entscheidungswege. „Dabei haben wir für die Kaskade heute eigentlich keine Zeit mehr“, betonte HR-Pioneers-Chef Häusling in seiner Keynote.

Ändern muss sich also einiges und damit es gelingt, ist viel Unterstützung auf allen drei Ebenen notwendig: beim einzelnen Menschen im Unternehmen, bei den Teams und in der Organisation selbst. Liefern sollen diese Unterstützung – darin sind sich eigentlich aller Experten in Köln einig – die Personalprofis. Kerstin Rothermel, Vice President People & Organisation bei Flix Mobility etwa erklärte, HR müsse in Zukunft vom Verwalter zum Veränderungs- und Entwicklungsbegleiter für Menschen, aber auch die Organisation selbst werden. So weiter machen wie bisher können die HRler deshalb nicht. „Erfolg war für uns bisher, wenn 90 Prozent der Formulare zu den jährlichen Mitarbeitergesprächen ausgefüllt zurückkommen – doch was im Gespräch zwischen den Menschen wirklich stattfand, war egal. Das geht nicht mehr!“, so die HR-Visionärin.

Erst recht nicht, da auch die Erwartungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an Personalabteilungen immer konkreter werden, so die Erfahrungen von Rothermel bei Flix Mobility: „Da können wir gar nicht mehr weghören.“ In den Mitarbeiterbefragungen, die bei der weltweit tätigen Plattform für Busreisen vierteljährlichen durchgeführt werden, wird zum Beispiel mehr Transparenz in punkto Entlohnung und Beförderung gefordert, aber auch besseres Feedback für die eigene Entwicklung.

All dies kann und muss HR liefern, ist Personalprofi Rothermel überzeugt. Und noch mehr. Die neue Leitfrage muss sein: Wie können wir wirklich Mehrwert für das Unternehmen schaffen? Leicht wird das sicher nicht werden. „Be prepared to be uncomfortable“, so ihre zentrale Botschaft in schönstem Denglisch. Eine Alternative gibt es allerdings ohnehin nicht. „Denn wenn wir uns als HR nicht grundsätzlich verändern, werden wir in die absolute Bedeutungslosigkeit abrutschen“, so Rothermel.

Dieses Schicksal wird die Personalerinnen von comdirect zumindest erst einmal nicht ereilen. Denn weil sie sich mit ihrem Experiment selbst zu Betroffenen gemacht haben, haben sie einiges über sich selbst und die neuen Anforderungen gelernt. Dass Selbstorganisation zwar für Motivation und Empowerment sorgt – aber auch enorm viel Kraft kostet beispielweise. Und das ist weniger banal, als man meinen könnte. Denn solche Learnings machen sie zu viel besseren Beratern in puncto Agilität, ist Anne Grobe überzeugt: „Wenn jetzt eine Führungskraft mit den Tränen in den Augen vor mir steht, weiß ich genau, worum es geht.“ Ihre Abteilung musste sich nach ihrer Abwesenheit erst einmal in einem, wie ihre Kollegin Brunnecker es formulierte, „fast schon therapeutischen“ Prozess wieder zusammenraufen. Offenbar mit Erfolg: So kollegial und reflektiert, wie sie sich gemeinsam auf der Bühne in Köln präsentieren, funktionieren die Personalentwicklerinnen jedenfalls als agile Vorbilder, Inspiration und Ansporn gleichermaßen.

Copyright Fotos: Marc Thürbach für HR Pioneers

15.05.2019
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