Schlauer lernen
Schlauer lernen

Vergessen Sie mehr!

Henning Beck erklärt, warum es kein Vorteil ist, sich viel merken zu können. ​

Wie sich die Zeiten ändern: Als ich zur Schule ging, musste ich noch Gedichte auswendig lernen. Denn das größte Problem war früher, an Informationen zu kommen und diese zu behalten. Kein Wunder, dass man Menschen darin ausbildete, sich möglichst viel zu behalten: mit allerlei Gedächtnistricks, Wiederholungstechniken, Karteikarten oder Eselsbrücken. Damals bewunderte man Gedächtnisweltmeister für ihre Fähigkeit, sich Hunderte von Zahlen in der richtigen Reihenfolge zu merken.

Diese Zeiten sind vorbei. Das große Problem heutzutage ist nicht, dass wir uns viele Informationen behalten müssten. Im Gegenteil: Wir werden verwirrt, weil wir, erschlagen von zu vielen Nachrichten, unser Gehirn immer noch behandeln wir eine lebende Festplatte. Doch statt sich möglichst viel zu merken, geht es heute vielfach darum, zu entscheiden, welche Info wirklich wichtig ist – und die unwichtigen zu vergessen. Das Anwendenkönnen von Wissen ist viel wichtiger als das Auswendiglernen. Ich weiß noch nicht mal die Telefonnummer meiner Schwester. Aber ich weiß, wann ich sie anrufen muss. Das ist deutlich besser, als wenn es andersrum wäre.

Während früher diejenigen im Vorteil waren, die sich viel merken konnten, könnten in Zukunft jene besser dastehen, die clever vergessen: erst priorisieren, die relevanten Dinge erkennen und dann die unwichtigen aus dem Kopf bekommen. Das ist im Übrigen nichts Neues. Intelligente Gehirne zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie besonders aktiv wären, wenn sie eine Aufgabe lösen. Das Gegenteil ist der Fall: je intelligenter, desto weniger wird nachgedacht. Nur die notwendigen Hirnareale sind aktiv, der Fokus auf das Wesentliche gerichtet, das Unwichtige ausgeblendet. Unintelligente Gehirne aktivieren hingegen deutlich mehr Nervennetzwerke für die gleich schwere Aufgabe. Denn wer nicht priorisieren kann, wird von zu vielen Informationen überfordert.

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Das Problem der heutigen Zeit ist, dass wir viel zu häufig den Anspruch an uns haben, alle Informationen verarbeiten zu wollen. Wir regen uns darüber auf, dass uns Namen auf der Zunge liegen, aber partout nicht einfallen wollen, dabei ist genau dieses „Es liegt mir auf der Zunge“-Phänomen ein Zeichen von reichhaltigem Wissen. So ist bekannt, dass Menschen, die besonders viele Informationen angesammelt haben oder über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz verfügen, gerade anfällig sind für solche geistigen Aussetzer. Sie kennen das von Ihrem E-Mail-Postfach: Je größer es wird, desto länger dauert die Suche. Dasselbe passiert im Gehirn: Je mehr es weiß, desto länger kann es dauern, bis man den Gedanken „gefunden“ hat. Es gibt also einen „Sweet Spot“, ein Optimum an gespeicherter Informationsmenge: Zu wenige Informationen sind schlecht, zu viele werden irgendwann zu langsam verarbeitet.

Kurzum: Die wichtigste Fähigkeit, um die Informationsmenge in Zukunft zu bändigen, könnte das clevere Vergessen sein. Man schult es, indem man zielgerichtet denkt. Statt den Fokus darauf zu legen, sich viele Infos zu merken, sollte man sie immer mit der Aufgabe vergleichen: Was brauche ich wirklich? Vom Ende her zu denken und dann die dafür notwendigen Informationen zu suchen, schult den Blick für das Relevante. „Lernen Sie ernst nehmen, was des Ernstnehmens wert ist, und lachen über das andre!“ schrieb Hermann Hesse in seinem „Steppenwolf“. Zumindest diesen Schulstoff habe ich bis heute nicht vergessen.

Der Autor: ​Henning Beck ist Neurowissenschaftler, und zwar einer der verständlichen. In Vorträgen und Seminaren vermittelt er die spannenden Themen des Gehirns. Sein aktuelles Buch heißt „Besser denken – Fokussieren, Verstehen, Entscheiden“. Kontakt: ­​henning-beck.com

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