Führung

Liebe Konflikte
Liebe Konflikte

Kein Konflikt, kein Change!

„Stell Dir vor, es ist Konflikt, und einer geht nicht hin!“ Was nach einer einfachen Formel für Frieden durch Verweigerung klingt, scheitert an der inneren Logik des Konfliktes. Die lautet: Wer nicht kämpft, hat verloren. Sich nicht zum Konflikt zu entschließen, löst ihn also nicht. Aber auch der Wille zu kämpfen und zu siegen kann Schaden anrichten. Für Unternehmen ist das Durchsetzenwollen dennoch überlebenswichtig – nicht zuletzt, um notwendigen Wandel herbeizuführen.

Preview

Einigkeits-Illusion: Was die Teilnahme an Konflikten unverzichtbar macht

Kein Win-win: Warum manchmal eine Seite klar verlieren muss

Ordnung und Veränderung: Wofür es in Organisationen Durchsetzungswillen braucht

Konsens und Kompromiss: Wann es unerlässlich ist, einmal nicht siegen zu wollen

Regulationskompetenz: Was es braucht, um in Konflikten zielgerichtet oder offen zu bleiben


Cover managerSeminare 327 vom 30.05.2025Hier geht es zur gesamten Ausgabe managerSeminare 327

Dass sich Konflikte – allen humanistischen Idealen zum Trotz – immer wieder entwickeln, ist unvermeidlich. Eine Welt ohne Interessengegensätze ist nicht denkbar, da jede Form der Existenz biologischer oder sozialer Systeme an Perspektiven und Entscheidungen geknüpft ist, die andere anders sehen. Jede Form von Gerechtigkeit, jede Form der Einigkeit, jede Norm muss daher ausgehandelt und in ihrer Labilität erhalten werden.

Was oder wer sich dabei durchsetzt, klären Konflikte, in denen die Beteiligten grundsätzlich zwei Möglichkeiten haben: entweder ihre eigene Meinung durchsetzen zu wollen oder anderen zu gestatten, ebendas zu tun. An dieser Stelle sei kurz an das Konfliktverständnis erinnert, das in der Serie „Liebe Konflikte“ beschrieben wird: Demnach haben Konflikte eine Eigendynamik, die sich entlang von insgesamt neun Polaritäten entfaltet, die die Haltungen der Streitparteien bestimmen, und die – je nach Situation – günstig oder ungünstig auf den Konfliktverlauf wirken können (mehr dazu im Kasten).

Wie funktionieren Konflikte?

Den Beiträgen dieser Serie liegt ein systemtheoretisches Verständnis zugrunde, das Klaus Eidenschink u.a. in seinem Buch „Die Kunst des Konflikts“ ausführt. Demnach sind Konflikte …

  1. kein Missgeschick im menschlichen Miteinander, sondern etwas, was unvermeidlich stattfindet, wenn Interessen und Sichtweisen aufeinandertreffen. Konflikte sind demnach auch nicht zu lösen, sondern nur (vorübergehend) zu beruhigen – und müssen bisweilen sogar verschärft werden.

  2. notwendig, um eine bestehende Ordnung aufzubrechen bzw. eine neue zu etablieren. Konflikte sind demnach nicht immer schlecht, und Konsens ist nicht immer gut, vielmehr geht es um die Frage, wann ein Konflikt bzw. ein Konsens schädlich ist oder hilfreich.

  3. unkalkulierbar und unkontrollierbar. Sie folgen dabei eigenen Regeln, wobei sie den Konfliktbeteiligten immer wieder vor die Wahl stellen, eskalierend oder deeskalierend weiterzumachen.

Ob sich Konflikte ausweiten oder abschwächen und welche Form sie dabei konkret annehmen, lässt sich nach Eidenschink anhand von insgesamt neun Polaritäten zeigen, die im Laufe dieser Serie thematisiert werden (s. Grafik). Im aktuellen Teil geht es um den sogenannten Zielmodus auf der Zeitdimension, genauer: um den Gegensatz von durchsetzender oder unentschiedener Haltung. Dabei geht es um die Frage, ob die Parteien jeweils selbst siegen oder offen lassen wollen, wer den Sieg erringt und wer die Niederlage trägt.

Quelle: managerseminare.de; Klaus Eidenschink

Im vorliegenden Fall geht es also– im sogenannten „Zielmodus“ – um die Polarität von „durchsetzend“ und „unentschlossen“. Es gibt eine ganze Reihe von kultivierten Formen, in denen diese Polarität gelebt und praktiziert wird. Sportliche Wettkämpfe, Mensch ärgere Dich nicht, Losen etc. Dieselbe Gegensätzlichkeit zeigt sich, wenn ein Polizist einem Verkehrssünder eine Strafzahlung aufbrummt, und dieser sich beugt, statt seine Sicht der Dinge durchsetzen zu wollen. Oder wenn die Führungskraft anweist, und sich die Mitarbeitenden murrend fügen.

Landläufig gilt Durchsetzungsstärke als erstrebenswert, diese kann aber auch schnell zur Eskalation führen, wenn beide Seiten auf ihrer Haltung beharren. Umgekehrt gilt Unterwerfungsbereitschaft als Verlierereigenschaft, ohne sie könnten Konflikte aber niemals beruhigt werden. Grund genug, genauer hinzuschauen, wie sich die Konfliktdynamik entlang des paradoxen Gegensatzes von Durchsetzungswille und Unentschiedenheit entfaltet. Die entscheidende Frage dabei lautet: Wollen die Parteien selbst siegen oder wollen sie offen lassen, wer siegt bzw. unterliegt?

Die Illusion von Einigkeit

Welche Rollen die Parteien dabei einnehmen, welche Handlungsmöglichkeiten sie haben und welche Wirkung sie damit auf den Konflikt nehmen, zeigt ein Beispiel aus der Unternehmenswelt:

Der Finanzvorstand eines börsennotierten Unternehmens sitzt bei mir im Coaching. Er leidet unter Schlaflosigkeit, ausgelöst durch massive Konflikte mit dem Vorstandsvorsitzenden, dessen Verhalten er ablehnt. Er selbst ist ein wertebewusster und integrer Mensch. Auch in seiner professionellen Rolle verhält er sich höchst korrekt. Sein Chef hingegen ist in seinen Augen ein Blender: fachlich kaum qualifiziert, machtorientiert, psychisch labil, vermutlich alkohol- und amphetaminabhängig. Dieser unterbreitet ihm zunehmend unethische Anliegen: Schlechte Zahlen sollen frisiert oder versteckt, private Reisen mit der Geliebten auf Firmenkosten abgerechnet, Boni-Geschenke beschlossen werden etc. Als er die Auflistung vorträgt, wirkt er verzweifelt und ängstlich.

„Ich kann und will da nicht mitmachen!“, sagt er. Auf die Frage, warum er sich nicht weigert, sagt er: „Meine Vertragsverlängerung steht an, und ohne seine Zustimmung sagt auch der Aufsichtsrat Nein.“ Öffentlich zu machen, was vorgeht, lehnt er jedoch kategorisch ab: „Anschwärzen kommt nicht infrage!“ Und auch die Option, woanders hinzugehen, weist er brüsk von sich: „Ich will das Unternehmen keinesfalls im Stich lassen, sonst fährt er es an die Wand.“

Man kann in Konfliktsituationen nicht wählen, ob Durchsetzungsgewalt gebraucht wird, sondern nur welche, wie, von wem, wie lange und wie verteilt.

Ein solcher Konflikt ist ein Paradebeispiel für die Bedeutung der Leitunterscheidung Zielmodus, weil er die Illusion zerstört, man könne ein Leben leben, welches nur aus Einigkeit und Einigung besteht. Konflikte müssen ausgekämpft werden, sollen sie nicht ewig weiter schwelen. Und dazu brauchen sie kultivierte Formen von Gewalt, denn wenn es die nicht gibt, nutzen sie stattdessen destruktive Ausprägungen von Gewalt. Man kann also in entsprechenden Situationen nicht wählen, ob Durchsetzungsgewalt gebraucht wird, sondern nur welche, wie, von wem, wie lange und wie verteilt.

Wenn Win-win keine Option ist

Auch eine Win-win-Strategie, die vielen als der Königsweg der Konfliktbearbeitung gilt, ist nicht immer möglich oder sinnvoll. Manchmal ist es sogar gut, wenn es keine Kompromisse gibt. Mit Kompromissen hätte sich das Volk nicht gegen die DDR-Regierung durchgesetzt. Auch sonst kennt jeder von uns Fälle, in denen es gut ist, dass eine Seite sich ganz durchsetzt und die andere ganz verliert, weil ein anderes Ergebnis einfach keine Option ist. So auch im Beispielfall:

Der Finanzvorstand ist in einer Zwickmühle: weder Flucht noch Weigerung kommen für ihn infrage und ebenso wenig, dass die Lage bleibt wie sie ist. Seine Ethik erlaubt ihm weder im Falschen mitzuspielen noch für die Wahrheit einzustehen, und gleichzeitig will er Unternehmen und Mitarbeitende nicht ihrem Schicksal überlassen. Mit dieser Analyse konfrontiert, erkennt er, dass er aus der Situation nicht mit sauberen Händen herauskommt, und seine einzige Chance darin besteht, sich für die beste der schlechten Möglichkeiten zu entscheiden. Das erleichtert ihm die Entscheidung:„Dann will ich dafür sorgen, dass man ihn rauswirft. Ich weiß nur nicht, wie das geht.“

Es folgen eng getaktete Coachingtermine, in denen wir die dafür nötigen Gespräche vor- und nachbereiten. Diese sind naturgemäß schwierig, ihm werden Ambitionen auf den Posten unterstellt, die Vorfälle als undenkbar abgetan. Hinzu kommt, dass der Aufsichtsratsvorsitzende ein enges Verhältnis zum Beschuldigten hat.Jeder Schritt, jedes Argument muss daher in Form und Inhalt stimmig sein. Immer wieder kommen Zweifel, schlechtes Gewissen sowie Schuldgefühle auf, die bearbeitet werden müssen. Der Coachee muss sich seine Aggression zum Freund machen. Am Ende gelingt es, der Gegner wird seines Amtes enthoben, er selbst kann bleiben.

Auf Sieg spielen – oder nicht

Konflikte dienen – allgemein gesprochen – dazu, bestehende Verhältnisse zu labilisieren und neue zu etablieren. Wie das Beispiel zeigt, braucht es dazu mitunter Durchsetzungskraft und Aggression, weil sich viele etablierte Situationen nur mit Einsicht, Vernunft und Argumenten nicht ändern lassen. Das heißt nun nicht, dass Durchsetzungsaktivitäten im Konflikt immer der richtige Weg sind. Sie sind zwar oft nötig, sie allein zu nutzen, führt im Konflikt jedoch zu Eskalation bzw. zu Unterwerfung oder Vernichtung einer Seite, was oft gar nicht gewollt ist.

Manchmal ist es sogar gut, wenn es keine Kompromisse gibt. Um bestehende Verhältnisse zu labilisieren und neue zu etablieren, braucht es dazu mitunter Durchsetzungskraft und Aggression.

Es braucht daher auch die alternative Option, nicht auf Sieg zu spielen, sondern es offenzuhalten, wer gewinnen soll. Das ist entscheidend, soll es einen Kompromiss oder einen Konsens geben. Denn solange es um Sieg geht, spielt die Frage, wer recht hat oder was die beste Lösung ist, keine ernsthafte Rolle. Der Konflikt kann sich dann nicht (mehr) sachlich oder sozial regulieren, sondern es gewinnt, wessen Kräfte stärker sind oder länger durchhalten. Doch auch der Verzicht aufs Siegenwollen ist nicht in jeder Situation nützlich oder sinnvoll. Denn wer seine Aggression nicht nutzt, um anderen die Grenzen aufzuzeigen oder sie aus dem Feld zu schlagen, kann bestimmte Konfliktformen und -eskalationen schlicht nicht managen.

Ordnung und Veränderung in Unternehmen

Wie notwendig Durchsetzungskraft ist, zeigt sich auch daran, dass sie als wichtige Führungseigenschaft gilt. Nicht umsonst verteilen Unternehmen Entscheidungs- und damit Durchsetzungsrechte bewusst asymmetrisch nur an bestimmte Rollen, Gremien oder Teams. Zum einen würden Organisationen sonst zu langsam und zu unübersichtlich, wenn alle überall gleichrangig mitreden könnten. Zum anderen ist der „Wille zu Macht“ auch die Basis, um eine Ordnung herzustellen, die jede Organisation benötigt, weil sonst zu viel unklar und unsicher bleibt.

Solange es um Sieg geht, spielt die Frage, wer recht hat oder was die beste Lösung ist, keine ernsthafte Rolle.

Paradoxerweise ist Durchsetzungswille auch dann gefordert, wenn diese etablierte Ordnung infrage gestellt werden soll. Veränderung von sozialen Verhältnissen ist selten im Einvernehmen zu haben, sie passiert, indem das „Neue“ oder „Andere“ mit den bestehenden Interessen und Lösungen gewissermaßen in den Ring steigt. Konflikte in Unternehmen sind so gesehen also weniger die Konkurrenzkämpfe einzelner Personen und auch nicht Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen, sondern notwendiges Mittel zum Change.

Mehr zum Thema

Klaus Eidenschink: Die Kunst des Konflikts – Konflikte schüren und beruhigen lernen.

Carl-Auer 2023, 29,95 Euro.

Mit systemtheoretischem Blick entwickelt Klaus Eidenschink ein Modell zum Verständnis von Konflikten und ihren systemimmanenten Dynamiken. Beschrieben wird, wie sich Konflikte selber erhalten, zwischen welchen Polen und in welchen Dimensionen sie sich bewegen – und welche Kompetenzen wir brauchen, um von Fall zu Fall entscheiden zu können: Sollte ich den Konflikt sogar schüren, anzetteln und auskämpfen? Oder sollte ich ihn doch lieber beruhigen? Und wie gehe ich bei beiden Optionen variantenreich und emotional intelligent vor?

Klaus Eidenschink: Liebe Konflikte – die Artikelserie

msmagazin.info/LiebeKonflikte

Unter diesem Link finden sich alle bisher erschienenen Teile der Konfliktserie. Im ersten Teil geht es um sieben Prinzipien, die Konflikte prägen. In den folgenden Teilen geht es um die insgesamt neun Polaritäten, entlang derer sich Konflikte entweder aufheizen oder entspannen.

Organisationen– wie das soziale Zusammenleben überhaupt – brauchen diesen Kampf ums Durchsetzen. Man könnte sogar sagen: Nur weil sie Strukturen schaffen, in denen Mitarbeitende Konflikten nicht entkommen können, funktionieren Organisationen überhaupt. Kernaufgabe von Führung ist die Regulation dieses Kampfes: von nutzbarer Ordnung einerseits und nützlichem konfliktären Gerangel um Veränderung andererseits. Der häufig zu lesende Wunsch, Organisationen sollten möglichst frei von Konflikten sein – „Das kostet so viele Ressourcen!“ – ist hingegen ebenso naiv wie schädlich.

Damit Durchsetzungswille nicht dysfunktional wird

So wichtig das Durchsetzenwollen beim Stabilisieren und beim Verändern von Organisationen auch ist, so dysfunktional kann es sein. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Vertreter der unterlegenen Alternative „vernichtet“ werden sollen, nach dem Motto: das Alte (=der Chef, der Businessplan, die Umstrukturierung) ist tot, es lebe das Neue! Diese Durchsetzungsstrategie offenbart viele mögliche Nachteile:

  • Man weiß nicht, wann der Durchsetzungskampf ein Ende findet. Oft machen es die Parteigänger des Alten dem Neuen schwer, teils über Jahre.

  • Beim Durchsetzen kann viel Porzellan kaputtgehen, was sich an Faktoren wie Motivation, Mitarbeiterbindung, Loyalität, Innovationsbereitschaft etc. bemerkbar macht.

  • Man weiß nicht, ob an dem, was man bekämpft, wirklich alles falsch ist. Durchsetzungsstrategien in Organisationen sind eigentümlich blind, wie katastrophal der Verlust der Alternative sein kann, die der Unterlegene repräsentiert.

  • Man weiß nicht, ob die eigene Vorstellung, wie es zu sein hat, wirklich besser ist. Der „Sieger“ muss nun beweisen, dass er es besser kann. Nicht selten ist die Enttäuschung riesig, wenn sich herausstellt, dass auch er nur mit Wasser kocht.

Der Pol „Unentschieden“

Die Dysfunktionalitäten und Risiken haben dazu geführt, dass sich in der Konfliktdynamik soziale Strategien entwickelt haben, die einen Wert in „Unentschiedenheit“ sehen. Der zeigt sich immer dann, wenn Konflikte nicht durch Vernichtung einer Alternative enden sollen, sondern mit ihrer Verbesserung, mit ihrem zeitweiligen Zurückstehen (Wahlen, Abstimmungen), mit einem Best-of-both-Worlds (Kompromiss), mit einer Verbindung von beidem (Konsens) oder einer freiwilligen Einsicht (Nachgeben). Führungskräfte machen die Erfahrung, dass sie mit Durchsetzen zwar nach oben kommen, dort angekommen aber zunehmend andere Fähigkeiten brauchen: Konflikte beruhigen, Interessen integrieren und Unterschiedlichkeit im Spiel halten. Wer das in machtvollen Rollen nicht kann, droht der Organisation, für die er oder sie Verantwortung trägt, schweren Schaden zuzufügen.

Führungskräfte machen oft die Erfahrung, dass sie mit Durchsetzen zwar nach oben kommen, dort angekommen aber zunehmend andere Fähigkeiten brauchen: Konflikte beruhigen, Interessen integrieren und Unterschiedlichkeit im Spiel halten.

Auch wenn es so klingen mag: Das heißt nicht, dass der Kooperationspol als ethisch höherwertig einzustufen ist. Durchsetzen im Namen der Humanität zu verteufeln, würde gerade der Humanität ja verwehren sich durchsetzen zu dürfen. Und selbstredend kann Konfliktkommunikation am Unentschiedenheitspol auch ungünstig wirken.

Dies ist etwa der Fall, wenn in bestehenden Verhältnissen ein wichtiges Thema, ein wichtiges Ziel oder eine wichtige soziale Gruppe keinen Einfluss bekommt. Wenn durch Reflexion („An der Gegenposition ist ja was dran!“), Selbstzweifel („Vielleicht irren wir uns ja!“), humane Werte („Das können wir doch so nicht machen!“) auf der Handlungsebene ungewollt Schwäche, Vorsicht und Zögerlichkeit entstehen, dann kann das sehr dysfunktional werden. Oft sind es die zweifelnden „Guten“, die den unbeirrten „Bösen“ durch ihre Skrupel das Feld überlassen und durch Duldsamkeit und Selbstaufgabe ein Ungleichgewicht ins Konfliktsystem bringen. Wer zu früh Kompromisse anbietet, kann sich schwächen oder ans Messer liefern. Es geht also darum – um mit Nietzsche zu sprechen –, dass den „guten“ Menschen auch „böse“ Taten zur Verfügung stehen müssen.

Kompetenzen am Unentschiedenheitspol

Zum kompetenten Handeln am Unentschiedenheitspol gehört daher mehr, als einfach nur nicht zu einem Konflikt hinzugehen. Die wichtigste Fähigkeit ist, sich von der eigenen Meinung distanzieren zu können. Je mehr Menschen und Gruppen dazu neigen, sich mit den eigenen Gefühlen und Gedanken zu verwechseln, desto unfreier sind sie in Konflikten und desto höher sind die Kosten, die sie in Kauf nehmen. Auch wer sich mit der Nation, seinen politischen oder moralischen Überzeugungen, seinem Besitz, seinem Körper etc. verwechselt, wird sich schwer(er) tun, vom Durchsetzen zu lassen und „selbst-los“ zu werden, also sich von der Identifikation mit Interessen zu lösen, die man in diesem Moment für die eigenen hält.

Je mehr Menschen und Gruppen dazu neigen, sich mit den eigenen Gefühlen und Gedanken zu verwechseln, desto unfreier sind sie in Konflikten und desto höher sind die Kosten, die sie in Kauf nehmen.

Zur Unentschiedenheitskompetenz gehört zweitens auch ein Verständnis, dass es bei Konflikten nicht ums Gewinnen geht. Erst wenn man es nicht als Notwendigkeit ansieht, eigene Vorteile zu erzielen, kann man es offenhalten und es sogar genießen, wenn andere im Ziel vorne liegen. Es ist zudem eine Fehlannahme, dass es einem immer guttut, wenn man gewinnt. Was zum Beispiel, wenn der Konflikt uns über einen Irrtum aufklären will? Was, wenn das ständige Gewinnen-Müssen in einen Dauerkampf mündet, der letztlich zur Selbstgeißelung wird? Schon aus purem Eigennutz sollte man also Kompetenz erwerben, Unentschiedenheit im Konflikt leben zu können.

Drei Zündstoff-Gedanken

Organisationen brauchen Konflikte, in denen sich das Neue gegen das Alte durchsetzen kann. Nur weil sie Strukturen für solche Konflikte schaffen, funktionieren sie überhaupt. Kernaufgabe von Führung ist die Regulation dieses nützllichen Kampfes von alter Ordnung und Gerangel um Veränderung. Der Wunsch, Organisationen sollten möglichst frei von Konflikten sein, ist hingegen ebenso naiv wie schädlich.

Auch wenn sie verpönt ist: Aggression ist im Konflikt mitunter notwendig, um der eigenen Sache gerecht zu werden, etwa wenn es darum geht, Veränderungen herbeizuführen oder Schaden von sich und anderen abzuwenden – und nicht zuletzt, um Konflikte zu verkürzen. Viele Situationen lassen sich nur mit Einsicht, Vernunft und Argumenten nicht ändern. Je nachdem ist es also keine Frage, ob man Durchsetzungsgewalt nutzt, sondern nur welche Mittel: konstruktive oder destruktive.

Das Ziel von Konflikten ist nicht zwangsläufig das Gewinnen. Erstens spielt, solange es nur ums Siegen geht, die Frage, wer recht hat oder was die beste Lösung ist, keine ernsthafte Rolle. Zweitens kann Gewinnen auch schaden, wenn es zum Beispiel heißt, dass die Warnung vor einem Irrtum nicht beachtet wird. Und drittens dauern Konflikte immer weiter an, wenn beide Seiten nur gewinnnen wollen und nicht auch nachgeben können.

Quelle: managerseminare.de; Klaus Eidenschink

Um in Konflikten die Freiheit zu haben, die Lösung, Interessen und Ziele anderer potenziell als besser und wichtiger als die eigenen anzusehen, braucht es drittens eine bestimmte Art von Selbstbewusstsein. Das zeichnet sich dadurch aus, dass es dem Vergleich mit anderen entwachsen ist und sich am Eigenen orientiert, nicht am Fremden. Dass es nicht an das Erreichen selbst gesteckter Ziele und perfekter Ergebnisse gebunden ist, sondern offen ist für Wendungen des Lebens, auch wenn das heißt, unangenehme Gefühle wie Leid oder Schmerz, Abschied und Trauer zu riskieren. Und es zeichnet sich dadurch aus, dass Verlieren nicht mit Schamgefühlen verbunden ist. Scham ist eine mächtige Emotion, die sehr schädlich sein kann, wenn günstige oder notwendige Handlungsoptionen im Konflikt ausgeschlossen werden, weil jemand sein „Gesicht wahren“ möchte.

Wer darüber nachdenken möchte, ob er bzw. sie mit dem „unentschiedenen“ Selbstbewusstsein ausgestattet ist, kann diese Fragen testen:

Regulationskompetenz am Pol „Durchsetzen“

Auch am Durchsetzungspol ist es wichtig, dass man kompetent handeln und sich dabei konstruktiv regulieren kann. In erster Linie heißt das, den Willen aufbringen zu können, den anderen zu unterwerfen, notfalls erbarmungslos. Vielen Menschen fällt das schwer oder erscheint es sogar unethisch. Speziell Führungskräften würden viele Berater und HR-Verantwortliche eher empfehlen, so ein Verhalten zu verlernen, als es sich anzueignen. Das ist aber letztlich eine Frage der Sichtweise. Denn wie sieht es aus, wenn jemand toxisch und eigennützig agiert? Wenn jemand intrigant ist? Wenn jemand absolut an falschen Entscheidungen festhält oder bessere verhindert? Wer in derartige Konfliktlagen kommt, für den ist ein unbedingtes Siegen-Wollen eine Frage von Zivilcourage, eine Notwendigkeit, um Schaden abzuwenden. Wie der Vorstand aus dem Beispiel muss man lernen, seine Aggression zu nutzen, um der eigenen Sache gerecht werden zu können. Und nicht zuletzt, um die Dauer eines Konflikts mithilfe von Durchsetzungsaktivitäten zu verkürzen.

Wer nachprüfen möchte, wie es um die eigene „Durchsetzungskompetenz“ steht, kann das mit folgenden Reflexionsfragen prüfen:

  • Kann ich energisch und kraftvoll konkurrieren?

  • Kann ich auch mal rücksichtslos sein?

  • Kann ich entschieden dagegenhalten, wenn jemand durchsetzungsstark auftritt?

  • Kann ich die Durchsetzungsstärke anderer würdigen?

  • Habe ich Werte, für die ich in Konflikte ziehe? Auch wenn damit Risiken verbunden sind?

  • Gibt es Themen und Überzeugungen, bei denen ich nicht kompromissbereit bin?

  • Bei welchen Themen wissen andere Menschen, dass ich sie verteidigen werde?

  • Gibt es Konflikte, in denen ich wider besseren Wissens aufgebe, weil ich der Durchsetzungskraft des Gegenübers nichts Gleichwertiges entgegensetzen möchte?

Vom Ende her denken

Bei aller Notwendigkeit von Durchsetzungsstrategien ist jedoch zu beachten, dass sie für alle Beteiligten riskant sind, da man Gefahr läuft, in ein endloses Geschehen einzutreten und am Ende selbst der Verlierer ist. Wer einseitig darauf festgelegt ist, sich durchzusetzen, der wird viele ungünstige Konflikte in seinem Leben haben. Er bzw. sie wird unnötige Niederlagen erleiden, unsinnige Kämpfe führen, sinnlose Siege erringen, hohe Kosten der Siege einfahren, viele Feinde gewinnen und sehr viel Zeit in Konflikten verbringen. Gerade deshalb aber kommt der Kompetenz, beide Pole bedienen und eine Kombination von schürenden und beruhigenden Kommunikationsformen nutzen zu können, eine besonders hohe Bedeutung zu. Menschen wie Gruppen müssen wählen können, ob sie sich vom Konflikt in Durchsetzungs- und damit Vernichtungsprozesse hineinziehen lassen, oder ob sie gesteuert, geplant und im Dialog das Maß des Verlierens aushandeln.

Jeder Konflikt bleibt am Leben, solange niemand verlieren will. Wenn alle Seiten gewinnen wollen, droht ungeheurer Kraftaufwand bei wenig Ergebnis.

Wer dazu einen Ruck in Richtung Unentschiedenheit braucht, dem hilft vielleicht ein Gedanke, der in Organisationen und bei Führungskräften erstaunlich unterrepräsentiert ist und oft sogar ganz fehlt: Jeder Konflikt bleibt am Leben, solange niemand verlieren will. Wenn alle Seiten gewinnen wollen, droht ungeheurer Kraftaufwand bei wenig Ergebnis. In einen Konflikt mit Gewinnerabsichten einzusteigen, ist leicht. Aus ihm wieder herauszukommen – das ist die eigentliche Schwierigkeit. Das lateinische Sprichwort „Was immer Du tust, bedenke das Ende!“ könnte hier die nötige Warnung sein.

Der Autor: Klaus Eidenschink berät und coacht Führungskräfte – insbesondere das Topmanagement großer Konzerne – in Fragen der Konfliktklärung, des Changemanagements und bei komplexen Entscheidungen, zudem führt er Coach- und Trainerausbildungen durch. Hintergrund seines Beratungsstils sind u.a. Ausbildungen und Erfahrungen in humanistischen Psychotherapieverfahren, Systemtheorie sowie Organisations- und Führungspsychologie. Kontakt: eidenschink.de

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