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Nachruf für Ruth C. Cohn

Ruth Cohn ist tot. Sie starb am 30. Januar 2010 im Alter von 97 Jahren in Düsseldorf. Cohn war eine Leuchtturm-Gestalt der modernen Psychoanalyse und auch der Pädagogik und Erwachsenenbildung. Mit der Themenzentrierten Interaktion – kurz: TZI – schuf sie ein Modell zur Zusammenarbeit in Gruppen, ohne das die moderne Weiterbildung kaum denkbar wäre. 1912 in Berlin geboren, emigrierte die Jüdin Cohn im Jahr 1933 in die Schweiz und 1941 in die USA. In New York entwickelte sie – nicht zuletzt ausgelöst durch ihre Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus – die TZI als Ansatz, der Menschen helfen soll, das Humane in sich selbst zu stärken und anderen human zu begegnen, so dass eine lebendige, wertschätzende Zusammenarbeit in der Gruppe möglich wird, in der alle Beteiligten ihre Potenziale entfalten können. Im Kern beruht die TZI darauf, vier Faktoren in der Gruppenarbeit wahrzunehmen und zu berücksichtigen, nämlich: das Thema, das 'Ich' des einzelnen Gruppenmitglieds, das 'Wir' der Gruppe und den Globe, will heißen, das Umfeld, den Background der Gruppenmitglieder. Die Kunst besteht darin, alles in einer förderlichen dynamischen Balance zueinander zu halten, wobei Postulate (etwa: 'Störungen haben Vorrang') und Regeln (z.B. 'Sei zurückhaltend mit Verallgemeinerungen') helfen.

Der Ansatz TZI erfuhr eine enorme Verbreitung und Rezeption, spätestens nachdem Ruth Cohn 1974 nach Europa zurückgekehrt war. Sie ließ sich in der Schweiz nieder, wo sie bis Ende der 90er Jahre Beraterin an der Ecole d'Humanité im Baseler Oberland war. Dort gab sie auch TZI-Kurse für Lehrer und Erwachsenenbildner. Ruth Cohn erfuhr viele Ehren, darunter 1979 die Ehrendoktorwürde, außerdem das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.

TZI-Schüler und -Anwender über die Verdienste einer weisen Frau

'Ruth Cohn hat aus einer humanistischen Grundhaltung heraus als Erste bewusst gemacht, dass neben dem Sachaspekt gleichermaßen auf die Menschen, die Prozesse, die zwischen diesen Menschen ablaufen, sowie auf das Umfeld der beteiligten Personen geachtet werden muss. Sie hat damit einen anspruchsvollen ganzheitlichen Arbeitsansatz begründet, der es möglich macht, zu erlernen und zu lehren, wie man gut miteinander umgehen kann. In ihrer Sicht auf den Menschen als autonom und dependent zugleich, mit ihrer Formulierung der Axiome 'Autonomie', 'Wertschätzung' und 'Grenzen erweitern', gibt Cohn eine Grundhaltung vor, mit der sich Menschen aus verschiedenen weltanschaulichen Kontexten identifizieren können. Ich selbst habe in der Auseinandersetzung mit der TZI vor allem meine Wahrnehmung nach innen wie auch nach außen geschult – ein zentraler Aspekt der TZI-Ausbildung, der für alle Lebensbereiche großen Gewinn bringt, der aber auch seine Zeit braucht.' - Dr. Ingeborg Verweijen, Professorin (em.) für Pädagogik, Lehrbefugte für Themenzentrierte Interaktion, Wien.

'So wie Newton die Schwerkraft entdeckt hat, hat Ruth Cohn entdeckt, wie Teams funktionieren. Sie hat beschrieben, welche Prozesse in Gruppen ablaufen und wie man diese steuern kann, und zwar so, dass es die guten Seiten aller Beteiligten fördert, dass das Team gemeinsam mehr erreichen kann als der Einzelne. Mit TZI geleitete Teams erleben jene Form von Kooperation, zu der wir Menschen nach den neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung geschaffen sind: Wir sind kooperative Wesen, die nicht zum Zwecke des Egoismus geboren sind, sondern dazu, unsere Kräfte zusammenzuführen. Viele Menschen haben wenig Übung darin, Kooperation im Team zu fördern. Mit der TZI aber kann man das lernen. Das – nicht mehr und nicht weniger – ist es, was uns Ruth Cohn hinterlassen hat.' - Elisabeth Gores-Pieper, Lehrbeauftrage für Themenzentrierte Interaktion am Ruth Cohn Institut International, Beraterin für Unternehmensentwicklung, Berlin.

'Mich begeistert die TZI immer wieder neu, weil es sich um ein genial-einfaches und zugleich höchst anspruchsvolles Gruppenverfahren handelt. Es geht dabei um die Fähigkeit, die Spannung zwischen humanistischen Idealen und Alltagswirklichkeit auszuhalten und einen kreativen Weg zu finden, das jeweils Bestmögliche in die Tat umzusetzen. Cohns besonderes Verdienst war es, 'unsere Selbstverhinderer zum Teufel zu schicken und uns zur Tat befreien.' Ich fühle mich mit Cohns gesellschaftspolitischem Anliegen tief verbunden: Ihre schmerzlichen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus waren für sie der Ausgangspunkt ihrer Suche nach einem Weg, 'mitten im Grauen der Welt' etwas zu tun. Pessimistisches Erkennen und optimistisches Wollen und Hoffen waren der Nährboden, auf dem sie ihre TZI entwickelte. Das Grauen der Welt ist nicht weniger geworden. Damit bleibt über Ruth Cohns Tod hinaus die zentrale Aufgabe bestehen, Menschen zu einem humanen Umgang miteinander zu verhelfen.' - Dr. Cornelia Löhmer, wissenschaftliche Leiterin des Weiterbildungs- und Beratungsinstituts Giessener Forum.

'Für mich ist Ruth Cohn ein Vorbild darin, für Werte und Überzeugungen einzustehen. Sie hatte eine klare und kantige Art. Sie ging liebevoll, aber auch konfrontierend mit anderen um. Wenn ich Ruth Cohn im Original lese, bin ich ergriffen von ihrer hohen Wertschätzung für die Besonderheit jedes Einzelnen. Ruth Cohn ging es darum, dass wir begreifen, dass wir individuell sind, gleichzeitig aber auch verbunden mit anderen. Die TZI ist kein 'moderner' Ansatz – sie ist nicht leicht und schnell umzusetzen. Das Modell scheint zwar einfach und selbstverständlich. Auf der praktischen Ebene stellt es sich aber immer wieder als Herausforderung dar. Doch das Arbeits- und Zeitinvestment lohnt sich, denn die Art des Lernens und Arbeitens im Rahmen der TZI ist höchst effektiv und nachhaltig. Gerade auch für Führungskräfte ist der Ansatz ein wertvoller Kompass: Eine Führungskraft muss wissen, wie sie selbst tickt, wie sie bei anderen 'rüberkommt', sie muss mit verschiedenen Charakteren umgehen und ihnen angemessen begegnen können, um die Stärken ihres Teams zu aktivieren.' - Dr. Christine Bruhn, Leiterin der Fachgruppe Wirtschaft am Ruth Cohn Institute, Berlin.

'Als ich Ruth Cohn zu Beginn meiner TZI-Ausbildung, Anfang der siebziger Jahre, in einem Seminar kennen lernte, traf ich auf eine Frau, die genau wahrnahm, was geschah, hart arbeitete und präzise intervenierte. Eine Frau, die so ehrlich war, dass sie offen ihre Verstöße gegen ihre eigene Methode zugab: Sie habe zu viel gesprochen und erklärt und zu wenig in der Runde zugehört. Das beeindruckte mich. Ebenso wie ihre klaren Worte einem Teilnehmer gegenüber, der erst am Ende eines Seminars mitteilte, dass er wegen seiner Schwerhörigkeit wenig mitbekommen habe. Sie sagte ihm, es sei seine Verantwortung, uns alle wissen zu lassen, dass er schwer höre, und dass er die Aufgabe habe, uns um eine deutliche Aussprache zu bitten. Zu mir sagte sie, ich solle mehr für meinen Körper sorgen. Das kam völlig überraschend, da ich damals keinerlei Wahrnehmung irgendwelcher körperlicher Defizite hatte. Sie kannte mich nicht und noch heute frage ich mich, welche innere Stimme sie leitete. Die Intervention war wirkungsvoll. Ich habe seit dieser Zeit mit zunehmender Einsicht daran gearbeitet, gerade mittels körperlicher Wahrnehmung und Achtsamkeit die TZI-Botschaft für mich und andere zur Wirkung zu bringen.' - Christiane Haerlin, Gründerin und Leiterin der Beruflichen Trainingszentren (BTZ) für psychisch Kranke, Köln.

'Mit Ruth Cohn ist eine der ganz Großen der Humanistischen Psychologie von uns gegangen. Sie war es, die das, was wahrhaft 'humanistisch' an der Humanistischen Psychologie ist, herausgearbeitet und zugleich in ihrer Menschlichkeit verkörpert hat. Als vertriebene Jüdin hatte sie Europa verlassen, als Entwicklungshelferin der Humanität kehrte sie zurück. Sie hinterlässt uns in der Gestalt von TZI eine Kunst der Gruppen- und Teamleitung, die bleibende Maßstäbe setzt und überall dort, wo Menschen miteinander lernen und arbeiten wollen, ein wahrer Segen sein kann. Wie viel menschliche Energie wird tagtäglich in chaotischen Teambesprechungen, gähnend langweiligen Konferenzen, zerfahrenen Leitungsbesprechungen verpulvert, wie viel Bereitschaft zur Teilhabe und zum Engagement werden im Keime erstickt? In der Lern- und Arbeitsgruppe steckt ein enormes Potenzial – zum Schlechten wie zum Guten. TZI eröffnet die Chance, das Beste aus ihr herauszuholen. Das Dreieck in der Kugel (die Eckpunkte Ich, Wir, das Thema, umgeben vom 'Umfeld'), das Ruth Cohn uns hinterlässt, rechne ich den Schätzen der Menschheit zu. Ein noch so gutes Konzept wird allerdings erst dann eindrucksvoll, wenn es einen Menschen gibt, der es vertritt und beseelt. Ruth Cohn war ein wunderbarer Mensch, scharfsinnig in ihrer Intellektualität, schlagfertig in der Kommunikation, liebenswürdig von ganzem Herzen und immer gern auch streitlustig, wenn es etwas auszukämpfen galt.' - Prof. em. Dr. Friedemann Schulz von Thun, Ruth-Cohn-Schüler und Kommunikationswissenschaftler, Hamburg.

Autor(en): (jum)
Quelle: Training aktuell 03/10, März 2010
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