Schlauer lernen
Schlauer lernen

Die Last des Digitalen

Henning Beck erklärt, warum Lernen eine Verdauungspause braucht. ​

Ich habe meine E-Mail-Adresse seit 1996. Das war eine Zeit, in der man sich entscheiden musste, ob man Informationen per Internet oder per BTX (einer Art „Online-Bildschirmtext“) abrufen wollte. Das große Versprechen damals war, dass wir durch das Internet alle schlauer, gebildeter, sogar demokratischer werden sollten. Während jahrhundertelang eines der größten Menschheitsprobleme darin bestand, überhaupt an Informationen zu kommen, wurde es seit Ende der 90er immer einfacher, jede Info ruckzuck auf einen Bildschirm zu laden.

Was wir unterschätzten: Dass Menschen nicht dadurch gebildeter werden, wenn man sie mit Informationen zuschüttet. Im Gegenteil: Heute besteht unser größtes Problem darin, die Flut an Informationen zu bändigen. Ich musste in der Schule noch Gedichte auswendig lernen. Denn in einer Welt, in der Informationen rar sind, ist es wichtig, die wichtigen zu behalten. Heute ist das anders. Denn in einer Welt, in der Informationen im Überfluss vorhanden sind, besteht die größte Kunst darin, die wichtigen Informationen überhaupt zu erkennen.

Heute sind wir derart überlastet, dass wir in Wochenend-Seminaren Geld dafür bezahlen, das Smartphone ausgeschaltet zu lassen und zur Ruhe zu kommen. Kunststück, denn die Nutzung digitaler Informationsgeräte ist heute völlig entgrenzt. Ich habe in meiner Schulzeit noch Computerspiele gespielt – stundenlang. Aber das fand an einem festen Rechner in einem eigenen Raum statt. Wenn das Spiel fertig war, ging ich aus dem Raum raus und hatte den Kopf frei. Heute haben wir digitale Geräte überall dabei. Sie kriechen in unser Leben, bis wir nirgends vor ihrem großen Ablenkungsversprechen gefeit sind.

Das liegt auch daran, dass unsere Informationsbeschaffung kein Ende kennt. Und das ist neu. Zum ersten Mal in der Technikgeschichte haben wir Geräte, die darauf konzipiert sind, niemals zu enden. Bei einem Buch gibt es eine letzte Seite, Filme haben ein Ende, Computerspiele einen Endgegner, Musikalben einen letzten Song. Heute leben wir in einer Welt ohne Letztes: Sie können ewig weiterscrollen, ohne irgendwo anzukommen. Es gibt keine letzte Nachricht, die Sie in Ihrem Feed lesen können, kein letztes Video auf Instagram. Unsere Mediennutzung hat uns zu ewig Suchenden gemacht – aber zum Findenden werden wir nie. So ist unser Leben zum ewigen Cliffhanger geworden, weil wir ständig auf der Suche nach dem nächsten Reiz sind.

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Unbefriedigt bleiben wir zurück. Denn unsere Mediennutzung macht uns nicht satt. Ich habe noch nie einen 20-Jährigen getroffen, der stolz darauf ist, 200 TikTok-Videos angeschaut zu haben. Oder darauf, früh mit Social Media begonnen zu haben. Laut einer US-Umfrage wünschen sich knapp 50 Prozent der unter 27-Jährigen, sie hätten TikTok niemals kennengelernt.

Unser Gehirn ist keine Festplatte, auf die man beliebig viele Informationen laden kann. Und Lernen ist nicht die Kunst, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit abzuspeichern. Für kluges Denken muss man verdauen können. Das gelingt nur, wenn man: erstens regelmäßige Pausen macht von der Informationsgewinnung. Beim Essen macht man es schließlich auch: Man pausiert und verdaut, erst dann kann der Körper mit den Nährstoffen etwas anfangen. Zweitens: Schaffen Sie sich Zeiten, in denen Sie keine Bildschirme nutzen (Praxistipp: keine Nutzung vor dem morgendlichen und nach dem abendlichen Zähneputzen). Drittens: Haben Sie Räume, in denen Sie keine Bildschirme haben. Und schaffen Sie sich ein Hobby an, bei dem Sie nicht erreichbar sind. Denn abzuschalten ist die höchste Kunst der Informationskontrolle.

Foto: Marc Fippel

Der Autor: ​Henning Beck ist Neurowissenschaftler, und zwar einer der verständlichen. In Vorträgen und Seminaren vermittelt er die spannenden Themen des Gehirns. Sein aktuelles Buch heißt „Das neue Lernen heißt Verstehen“. Kontakt: ­​henning-beck.com

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