Horst Lempart in Speakers Corner
Horst Lempart in Speakers Corner

„Unternehmen brauchen Keep Manager“

​Viele Unternehmen fokussieren sich stark auf Veränderung und Transformation. Aus gutem Grund. Anpassungsfähigkeit ist wichtig in Zeiten mit erhöhtem externen Anpassungsdruck. Weniger gut ist jedoch, dass dabei etwas Wichtiges vergessen wird, meint Business Coach Horst Lempart: Systeme sind nur dann gesund, wenn es in ihnen eine Balance von Agonist und Antagonist gibt, sprich: Genauso wichtig wie der Change, ist vernünftige Bestandswahrung. Damit die nicht unter den Tisch fällt, empfiehlt Lempart die Einrichtung einer neuen Rolle im Unternehmen: der des Keep Managers bzw. der Keep Managerin.

Wirtschaftskrise, Corona-Krise, Klimakrise, Energiekrise: Die Krisen, mit denen wir es zu tun haben, stapeln sich. Sie verstärken sich gegenseitig und sind längst zu einer Polykrise angewachsen, die viele Menschen in massiven Stress versetzt. Denn wir Menschen sind so programmiert, dass wir auf Defizite, auf Konflikte und Krisen – negative Reize also – stark reagieren. Auch Veränderungsanforderungen, die (oft im Gefolge von Krisen) ungewollt über uns kommen, erleben wir daher als belastend bis bedrohlich. Das zeigt sich derzeit auf gesellschaftlicher Ebene in der (nach meiner Beobachtung) gesteigerten Reizbarkeit und Empörungsbereitschaft der Bevölkerung. Es zeigt sich aber auch im beruflichen Kontext, wo man schon seit Langem Führungskräfte darüber klagen hört, dass sich Mitarbeitende gegen Veränderungen sträuben.

Die Diagnose lautet dann häufig: Der Change scheitert an widerständigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Und als Gegenmaßnahme konzentriert man sich darauf, die persönliche Veränderungs- und Resilienzfähigkeit zu trainieren, und fordert Agilität ein. Das Motto dahinter: „Arbeite an dir, dann klappt der Change!“ Die Frage allerdings, ob der Widerstand der Mitarbeitenden auch seine Berechtigung haben könnte, stellt man sich dagegen fast nie. Im Gegenteil: Nach meiner Beobachtung treiben viele Unternehmen Change oft um seiner selbst willen voran, ohne Rücksicht auf bestehende Werte, Funktionierendes, möglicherweise Erhaltenswertes.

Natürlich sind Organisationen in der heutigen Geschäftswelt ständig mit der Herausforderung konfrontiert, sich auf technologische Innovationen, auf Marktveränderungen oder neue regulatorische Anforderungen einstellen zu müssen. Anpassungsfähigkeit ist ein entscheidender Erfolgsfaktor, keine Frage. Aber genauso wichtig ist ein Gegengewicht dazu. Und zwar aus zwei Gründen: Erstens verläuft Veränderung am ehesten dann erfolgreich, wenn man nicht den Fehler macht, das Kind mit dem Bade auszuschütten, sondern wenn man an bewährte, funktionierende Strukturen und Praktiken anknüpft. Zweitens wirkt es sich auf die menschliche Psyche fatal aus, wenn im Zuge von Veränderungsprozessen alles, was sicher schien, alles, was in der Vergangenheit als richtig galt und Erfolge erzielte, plötzlich nichts mehr gelten soll. Unsere Narrationen – die Bilder und Erfahrungen der Vergangenheit – machen einen wesentlichen Teil unseres Selbstkonzeptes aus. Wenn unsere Vergangenheit komplett infrage gestellt wird, fühlen wir uns auch selbst infrage gestellt. Wir fühlen uns in unserer Identität bedroht. Denn wir können uns nur mit unserer eigenen Geschichte identifizieren, nicht aber mit einer abstrakten, unkonkreten Zukunft.

Ich glaube daher, Unternehmen brauchen beides: Erstens benötigen sie Akteure, die Wandel anstoßen und vorantreiben. Zweitens brauchen sie aber auch solche, die dafür Sorge tragen, dass es ein Gegengewicht dazu gibt. Sie brauchen eine Funktion, die sich gezielt dafür einsetzt, dass Bewahrenswertes erkannt und bewahrt wird, und die den Mitarbeitenden „Boden unter die Füße schiebt“, auch wenn es Schiffsplanken auf offener See sind. Anders ausgedrückt: Unternehmen brauchen auch Akteure, die im Change den Fokus auf psychologische Sicherheit legen und Antworten auf die Frage geben: Worauf können wir vertrauen? Kurzum: Sie brauchen Keep Manager und Keep Managerinnen.

Ein „Keep“ ist in der Seemannssprache eine Rille oder Kerbe, die dem Tau in der Führung Halt gibt (zum Beispiel am Mast). Ein gutes „Ablaufen“ und „Ent-Wickeln“ braucht also gleichzeitig eine Stabilität gebende Führung. Genau das gilt auch für gut begleitete Changeprozesse. Um die Schiffsmetapher noch ein wenig zu bemühen: Natürlich gilt für Unternehmen panta rhei („alles fließt“), doch gleichzeitig braucht es Festland, um wieder tragenden Boden unter die Füße zu bekommen. Der Keep Manager sorgt dafür, dass es ausreichend Landungsbrücken, Inseln und tragfähige Unterbauten im Wandel gibt. Schließlich würde auch niemand auf die Idee kommen, schwimmend den Atlantik zu durchqueren; auch ein Schiff ist nichts anderes als ein sicherer Ort auf dem weiten Meer.

Da Systeme selbstregulierend eine Homöostase, also ein inneres Gleichgewicht anstreben, ist die Notwendigkeit von Keep selbsterklärend. Auch biologische Systeme wie unser Körper arbeiten mit Agonist und Antagonist, mit Sympathikus und Parasympathikus, mit Wach- und Schlafrhythmus. Als ich vor rund fünf Jahren zum ersten Mal den Begriff des Keep Managers öffentlich machte, war das Interesse daran denn auch groß. Gleichwohl führt eine solche Funktion – im Vergleich zum Changemanager – heute noch ein Schattendasein, beziehungsweise ist meist schlicht nicht vorhanden. Ich denke, die Unternehmen unterschätzen bislang den Wert. Dabei könnte gerade ein Keep Manager, könnte eine Keep Managerin etwas stärken, das im Change enorm wichtig ist und oft verloren geht: Vertrauen.

Vertrauen ist etwas anderes als Sicherheit. Vertrauen, etwa in Menschen oder Institutionen, wird gerade dann relevant, wenn man sich eben nicht ganz sicher sein kann. Der Keep Manager fördert dieses Vertrauen. Nach meiner Vorstellung sollte er dabei zuerst beim Selbstvertrauen ansetzen und die Selbstsicherheit der Menschen stärken, denn sie ist der Anker in risikobesetzten Lebensphasen: Wir schaffen das, auch wenn wir nicht genau wissen, was auf uns zukommt. Wir sind zuversichtlich und kennen unsere Ressourcen – auch wenn alles ungewiss ist. Um aber mit dieser inneren Kraft in Kontakt kommen zu können, braucht es Keep-Phasen. Es braucht Zeit und Raum zum Innehalten. Um sich Überblick zu verschaffen. Um Hilfreiches von weniger Hilfreichem zu trennen. Um sich darüber klarzuwerden, was funktional und bewahrenswert ist – und was nicht.

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Man könnte auch sagen: Keep Manager beschäftigen sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen den Wurzeln und Werten der Organisation und ihren Zielen. Sie haben im Change ein Auge auf mögliche Konflikte zwischen alten, weiterhin bestehenden und neuen Zielen. Sie schauen auf die verfügbaren Ressourcen und sind ein wichtiges Bindeglied zwischen Changemanagement, Forschung und Entwicklung sowie Führung. Wobei es in kleineren Betrieben auch nicht immer unbedingt eine spezielle Person für diese Aufgaben geben muss. Es ist auch möglich, die Aufgaben- bzw. die To-do-Liste des Keep Managers von einzelnen Personen zu entkoppeln und sie – zum Beispiel im Rahmen einer Klausurtagung – von einem Team erarbeiten zu lassen.

Eine besonders wichtige Rolle des Keep Managements besteht aus meiner Sicht darin, dafür zu sorgen, dass Mitarbeitende ihre Gefühle, insbesondere ihre Ängste und die dahinterliegenden Sorgen und Zweifel, thematisieren können und dass diese im organisationalen Diskurs Berücksichtigung finden. Gerade die sonst oft stigmatisierten „Bremser“ und „Bremserinnen“ (gern auch die „Ewiggestrigen“, die „Konservativen“, die „Alten“, die „Gewohnheitstiere“, die „Abwartenden“ genannt) bekommen durch das Keep Management eine Stimme. Dies ist nicht nur wertvoll zu ihrer eigenen Entlastung, es kann auch aufschlussreich für das Unternehmen sein. Denn nicht alle Sorgen und Zweifel in Bezug auf Veränderung sind darauf zurückzuführen, dass Menschen aus Gewohnheit und Reaktanz das Neue ablehnen. Wie oben bereits angerissen, können solche Zweifel vielmehr ein wertvoller Hinweis darauf sein, dass im Changeprozess Wichtiges ignoriert wurde. Dass man sich womöglich allzu leichtfertig von eigentlich funktionierenden und sinnvollen Strukturen und Prozessen verabschieden wollte. Der Keep Manager kann, indem er oder sie eine starke tragfähige Beziehung zu den Menschen im Unternehmen aufbaut und sich Methoden des Coachings und der Moderation bedient, dazu beitragen, einen solchen übers Ziel hinausschießenden Aktivismus zu vermeiden.

Zugegeben: In unseren Zeiten verkauft sich Wandel leichter als Bestandswahrung. Wer sich als „Bewahrer-Typ“ outet, braucht eigentlich Minderheitenschutz und eine Quote. Und Keep Manager sind genau das: Bewahrer qua Funktion – und noch mehr. Unternehmen brauchen neben einem wertschätzenden progressiven Part auch einen solchen neugierigen Traditionalisten. Beide Funktionen ergänzen sich, sie sind komplementär und kein Widerspruch. Mit der Einführung eines Keep Managers, einer Keep Managerin würden Unternehmen auch einem sehr wichtigen Anspruch gerecht: Sie wäre ein Beitrag dazu, Ambiguitätstoleranz zu leben und gleichzeitig mit zwei Händen zu spielen – "sowohl als auch" statt "entweder oder".

Horst Lempart …

Horst Lempart …

… ist Business Coach, Supervisor und Speaker. Er führt eine eigene Praxis in Koblenz und hat zahlreiche Fachartikel und Bücher rund um das Thema Coaching veröffentlicht. Kontakt: horstlempart.de

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