Führung meets Coaching
Führung meets Coaching

Zur Dissoziierung anregen

Martin Wehrle schildert, wie wir unserem Gegenüber helfen können, innere Distanz zu den eigenen Gefühlen zu gewinnen.

„Ich bin so richtig sauer, dass mich niemand unterstützt“, sagt die Mitarbeiterin zu ihrer Führungskraft. Was fällt Ihnen an diesem Satz auf? Der gustatorische Ausdruck? Das Wort „sauer“ bezieht sich auf den Geschmackssinn. Die Generalisierung durch „niemand“? Und sicher die enthaltene Emotion: Hier empfindet jemand Wut. Der wichtigste Aspekt ist aber ein anderer: Die Mitarbeiterin unterscheidet offenbar nicht mehr zwischen sich und ihrem Sauersein. „Ich bin“ ist die stärkste Formulierung der deutschen Sprache: Hier setzt sich eine Person mit dem Zustand gleich, in dem sie sich gerade befindet – und liefert sich damit diesem Zustand aus.

Wer sagt „Ich bin traurig“, macht sich gleich mit der Trauer. Wer sagt „Ich bin überfordert“, macht sich eins mit der Überforderung. Und wer sagt „Ich bin frustriert“, setzt sich gleich mit dem Frust. Wir alle verwenden solche Formulierungen, weil wir in emotionalen Momenten nicht mehr differenzieren. Ein „Ich bin“ assoziiert: Es wird immer so bleiben. Wenn wir sagen „Ich bin ein Mensch“, beziehen wir uns auf unser unveränderliches Menschsein. Und wenn wir sagen „Ich bin sauer“, können wir uns in diesem Moment keine andere Möglichkeit vorstellen, als sauer zu sein. Dann steuern nicht mehr wir unsere Gefühle, sondern unsere Gefühle steuern uns – oder genauer gesagt: Ein bestimmtes Gefühl steuert uns.

Das muss jedoch nicht zwangsläufig so sein. Denn tatsächlich ist es doch so: Wir empfinden immer mehrere Gefühle zur gleichen Zeit, auch wenn ein Gefühl manchmal besonders dominant ist. Und diese Gefühle kommen und gehen. Aber was immer bleibt, ist unsere Persönlichkeit. Sie ist das Flussbett, durch das die Gefühle fließen. Dem Gegenüber zu helfen, sich das bewusst zu machen und innere Distanz zu den eigenen Gefühlen zu entwickeln, es zur – wie wir im Coaching sagen – Dissoziierung anzuregen, ist eine wertvolle Kunst der Gesprächsführung.

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Wendet die Führungskraft aus dem Eingangsbeispiel sie an, könnte sie zu der „sauren“ Mitarbeiterin etwa sagen: „Du fühlst dich gerade sauer, weil dich deine Kolleginnen und Kollegen zu wenig unterstützen.“ An diesem Satz ist geschickt, dass die Führungskraft nicht sagt „Du bist sauer“, sondern: „Du fühlst dich …“ Und dass „niemand unterstützt“ umformuliert wird in „zu wenig unterstützen“. Das sollte die Mitarbeiterin anregen, ihre Generalisierung zu hinterfragen. Und der nächste Kniff besteht darin, dass sie sagt: „(…) gerade sauer.“ Das Wort „gerade“ macht deutlich: Das ist ein vorübergehender Zustand. Schon allein diese Wortwahl verhilft der Mitarbeiterin zu mehr Distanz.

Nun könnte die Führungskraft noch fragen, welche weiteren Gefühle im Spiel sind. Und schließlich auch, welche positiven Aspekte die Situation womöglich trotz aller Ärgernisse mit sich bringt. Solche schlichten Coachinginterventionen können eine große Wirkung haben und einen Menschen zurück ins rationale Denken holen. Wer die Wut nicht mehr als Teil von sich wahrnimmt, sondern als temporären Zustand, kann viel besser mit ihr umgehen. Hören Sie im Alltag genau hin, „Ich bin …“ ist eine der häufigsten Formulierungen. Es gibt also viele Gelegenheiten, die Methode zu üben.

Der Autor: Martin Wehrle ist Karrierecoach und Coachausbilder mit eigener Akademie in Hamburg. Sein aktuelles Fachbuch heißt „Die Coaching-Schatzkiste“. Kontakt: www.karriereberater-akademie.de

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