Management

Thomas Sattelberger im Interview
Thomas Sattelberger im Interview

„New Work in New Business“

„Radikal neu – Gegen Mittelmaß und Abstieg in Politik und Wirtschaft“ heißt das neue Buch von Thomas Sattelberger. Der ehemalige Konzern-Personalvorstand und Ex-Staatssekretär, der seit jeher für klare Kante bekannt ist, geht darin hart mit vielen aktuellen Entwicklungen in Wirtschaft und Arbeitswelt ins Gericht, liefert aber auch Lösungsvorschläge. Im Interview mit managerSeminare erklärt Sattelberger, wieso sich der New-Work-Diskurs aus seiner Sicht verrannt hat.

Preview

Bis zur Unkenntlichkeit kastriert: Wie die New-Work-Idee notorisch verzwergt wird

New Work als Reparaturbetrieb: Warum in Zeiten digitaler Transformation New Work in Old Business kontraproduktiv ist

Nicht nur neu arbeiten, sondern neue Arbeit schaffen: Wieso New Work auch neue Geschäfts- und Beschäftigungsmodelle implizieren muss

Wirkungslose Evangelisierungskampagnen: Warum interne Kulturentwicklung kein Transformationsmotor sein kann

Falsch verstandene Diversity: Warum es in Deutschland in puncto Innovativität nur bedingt auf Frauen in der Führung ankommt

New Learning: Warum betriebliche Weiterbildung egoistisch-altruistisch sein muss

Cover managerSeminare 309 vom 17.11.2023Hier geht es zur gesamten Ausgabe managerSeminare 309

Herr Sattelberger, wenn Sie den Begriff New Work hören, was denken Sie?

Thomas Sattelberger: Ich denke: Deutschland, ein Großteil seiner Beraterszene und viele seiner Personalabteilungen haben den Begriff bis zur Unkenntlichkeit kastriert.

Das klingt hart. Wovon sind Sie enttäuscht?

Davon, dass das Thema verzwergt wird – zuletzt, während der Corona-Zeit, auf die Aspekte Arbeitszeit- und Arbeitsortsouveränität, also Homeoffice. Das ist ein Irrweg. Denn die Innovationskraft, die wir brauchen, entsteht dadurch nicht. Wenn man New Work auf Remote-Arbeit reduziert, wirkt sich das sogar negativ auf die Innovationskraft aus – weswegen die US-amerikanischen Software- und Plattform-Companys derzeit darum ringen, ihre Leute zumindest in hybride Arbeitsstrukturen zurückzuholen. Sie wissen: Man braucht Präsenz, um kreativ und innovativ sein zu können. Lediglich Routinearbeit, ob einfach oder anspruchsvoll, lässt sich im Homeoffice abarbeiten. New Work hat zuvor aber auch noch andere Verzwergungen erfahren: Man hat das Thema von geschäftlicher Transformation entkoppelt. So, als ginge es dabei nur um Arbeit auf Augenhöhe – anders führen, anders zusammenarbeiten, Mitspracherechte gewähren usw. Ein Rückgriff auf die Human-Relations-Bewegung der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts, zwar wichtig, aber nur Reparaturbetrieb im Industriezeitalter. Das Grundproblem ist: Die Transformation der Arbeitswelt wird diskutiert, ohne sie mit der Transformation der Geschäftswelt zu verknüpfen. Es bleibt bei New Work in Old Business.

"Die Transformation der Arbeitswelt wird diskutiert, ohne sie mit der Transformation der Geschäftswelt zu verknüpfen. Es bleibt bei New Work in Old Business."

Steckt nicht gerade in den Konzepten neuer Zusammenarbeit das Versprechen, dass sich dadurch die Innovationskraft erhöht, sprich, dass New Business entstehen kann?

Dagegen spricht die gesamte Evidenz. Wir sind in Deutschland bei den Patenten und Ausgründungen signifikant abgesackt. Wir sind beim Export von Hightech- und Deep-Tech-Gütern und Dienstleistungen ebenfalls signifikant abgesackt. Laut einer aktuellen Innovationsstudie hat sich das Thema Intrapreneurship in den Unternehmen besorgniserregend nach unten entwickelt. Wir sind der kranke Mann Europas, nicht nur bei Innovationsindikatoren, sondern aktuell auch in unserer Volkswirtschaft. Vor diesem Hintergrund wüsste ich nicht, wie man eine solche Aussage faktisch belegen könnte, außer durch blauäugige Hoffnung. Statt New Work in Old Business brauchen wir New Work in New Business!

Heißt konkret?

Es darf eben nicht nur darum gehen, in alten Strukturen anders zu arbeiten, es muss auch um andere Arbeit in neuen Strukturen gehen. Meine Kernbotschaft ist: Technologie treibt die Ökonomie und innerhalb dieser Ökonomie auch das System Arbeit. Das heißt: Wenn sich Unternehmen richtig technologisch transformieren, dann transformieren sie das Geschäft und – sozusagen simultan – auch die Arbeitswelt. Es geht also um neue Geschäfts- und Arbeitsmodelle. Und: Es geht auch um andere Formen von Beschäftigung jenseits der klassischen Festanstellung. Auch dies ist eine Verzwergung von New Work: dass man sich immer nur auf die abhängige Beschäftigung fokussiert. Dabei müsste New Work die Grenzen industrieller Arbeit hinterfragen, es müsste die Chancen ausloten, die in selbstständiger digital-mobiler Arbeit stecken.

"Es darf bei New Work nicht nur darum gehen, anders zu arbeiten, es muss auch um andere Arbeit in neuen Strukturen gehen."

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass es sinnvoll wäre, sich wieder auf das zu besinnen, was der Erfinder des Begriffs, Frithjof Bergmann, unter New Work verstanden hat.

Frithjof Bergmann hat eben nicht über neues Arbeiten in alten Anstellungsverhältnissen gesprochen. Um die Krise der US-Automobilindustrie in den 1980er-Jahren mit ihren Massenentlassungen zu bewältigen, hat er ein Gegenkonzept vorgelegt, das einen wirklichen Systemumbruch implizierte. Er hat der traditionellen Automobilwelt in Detroit ein Konzept entgegengesetzt, das neben Talentzentren für „neue Arbeit“ auch Smart Consumption und Smart Production (dezentrale Versorgung auf hohem technologischem Niveau) beinhaltete. New Work war bei ihm zutiefst mit innovativen Produktionstechnologien und neuen Formen von Beschäftigung jenseits der klassischen Erwerbsarbeit verbunden. Also all dem, was im heutigen New-Work-Diskurs fehlt.

Aber gehen bei neuen Beschäftigungsformen jenseits klassischer Angestelltenverhältnisse nicht zu Recht Alarmglocken an? Besteht da nicht die Gefahr, dass eine Art neues Proletariat von Clickworkern entsteht? Und, aus Unternehmenssicht, die Gefahr, dass erst recht keine Kohäsion mehr zustande kommt – die doch, wie Sie eingangs sagten, für Kreativität und Co. wichtig ist?

Zuallererst ist es ein Gebot der Ehrlichkeit, zu sagen, dass Deutschland heute schon den größten Niedriglohnsektor Europas besitzt. Das Prekariat besitzen wir also schon, nicht zuletzt dadurch, dass wir bei der technologischen Transformation und der damit verbundenen Bildung immer weiter zurückhängen. Die Kohäsion, die es für kreatives und agiles Arbeiten braucht, hängt auch nicht vom Arbeitsvertrag ab. Ich bin überzeugt, dass der Weg in die digitale Ökonomie die Verflüssigung von Beschäftigungsformen voraussetzt. Während der Corona-Zeit haben wir gesehen, dass sich anspruchslose wie anspruchsvolle Routinearbeiten bestens remote erledigen lassen. Eigentlich der beste Beleg dafür, dass man dafür keine festen Arbeitsverhältnisse braucht. Und der Bedarf an neuen digitalen Kompetenzen, die es für die Transformation braucht, wird sich nur durch das Wachstum an hoch qualifizierten digitalen Freelancern decken lassen. Diese Spezialisten, die die Unternehmen dringend brauchen, sind an Freiheit interessiert. Sie brauchen Freiheitsrechte. Und für die niedrig Qualifizierten und/oder niedrig Verdienenden brauchen wir ein der Festanstellung vergleichbares Maß an sozialer Absicherung, an Schutzrechten. Vielleicht benötigen wir auch eine ganz neue Beschäftigungskategorie zwischen Arbeitnehmer und Auftragnehmer, sozusagen arbeitsrechtlich ein Hybrid. Ich rechne jedenfalls damit, dass es zunehmend „Fluid Companies“ mit einem geringer werdenden festen Kern von Stammmitarbeitern, vor allem aber mehr temporär Beschäftigten geben wird – und geben muss. Denn Freelancer sind Treiber von Veränderung und Innovation, sie sind die Hefe im Teig für die Transformation. Ich habe oft genug erlebt, dass die zum Teil abgefuckte Kultur von etablierten Unternehmen erst durch die Einbeziehung solcher Freelancer ein Stück weit aufgefräst worden ist, und damit Digitalisierungsvorhaben überhaupt vorangekommen sind. Von den Evangelisierungskampagnen in Unternehmen halte ich dagegen gar nichts mehr.

"Freelancer sind Treiber von Veränderung und Innovation, sie sind die Hefe im Teig für die Transformation."

Welche Evangelisierungskampagnen?

Die Kulturwandelkampagnen. Dadurch passiert am Ende rein gar nichts. Oder wie viele Unternehmen kennen Sie, die es wirklich geschafft haben, sich durch reinen Kulturwandel grundlegend zu transformieren?

Tja, viele fallen einem tatsächlich nicht ein …

Eben. Die interessante Frage lautet doch: Verändert man am System oder im System? Gerade wegen der Widerstandskräfte von Organisationen ist es oft der Schlüssel, am System zu verändern, nicht im System: Strukturarbeit statt – oder vor – Kulturarbeit.

Sind Sie deswegen ein Freund der strukturellen Ambidextrie, also der auch räumlichen Einteilung von Unternehmen in Bereiche, die sich dem Bestandsgeschäft widmen, und Bereiche, die sich der Innovation verschreiben?

Ich bin überzeugt: Wir brauchen strukturell separierte dritte Orte, in denen Neugeschäft experimentell entwickelt werden kann. Interne Labs und Innovationswerkstätten taugen höchstens als Übergangsbrücken, vor allem aber brauchen wir mehr unabhängig werdende Newcos – Corporate Spin-offs und Speedboats. Eben weil es kaum möglich ist, fundamentale Innovationen in alten Geschäftsstrukturen zu entwickeln. Das Immunsystem der Organisation stößt das Neue meistens ab. Deswegen ist damals auch T-Mobile gegenüber der Telekom entstanden, am anderen Rheinufer. Und zur Zeit von René Obermann hat die Telekom sehr auf Speedboats gesetzt, die an den Rändern des Geschäfts navigierten. Sein Nachfolger Tim Höttges verlor hingegen schnell die Geduld, wenn sich nicht rasch ein Return-on-Invest einstellte.

Ein verbreitetes Phänomen, oder?

Viele Unternehmen sind hocheffizient und vernarrt in das, was sie erfolgreich gemacht hat. Aber was ihnen fehlt, ist das Bewusstsein, dass man neben seinem etablierten Standbein auch mindestens ein Spielbein für die Zukunft braucht.

Mehr zum Thema

Thomas Sattelberger: Radikal neu – Gegen Mittelmaß und Abstieg in Politik und Wirtschaft.

Herder 2023, 25 Euro.

In seinem aktuellen Buch macht Thomas Sattelberger deutlich, warum er Deutschland in der Krise sieht. Er führt dabei nicht nur Defizite im Schulsystem, im Hochschulsektor und der Forschungs- und Innovationsförderung ins Feld. Der Ex-Personalchef kritisiert auch die Führung in Konzernen sowie im deutschen Mittelstand hart. Vor allem seine Diagnose in Sachen Personalmanagement fällt unschmeichelhaft aus: Sattelberger findet, hier werden falsche Prioritäten gesetzt.  

Judith Muster: Die richtigen Regler setzen – Organisationen innovationsfreundlich aufstellen.

managerseminare.de/MS308AR03

Innovationsfähigkeit ist für viele Organisationen ein wunder Punkt. Zwar mangelt es ihnen selten an guten Ideen, doch die Ideen perlen häufig an internen Logiken ab – so die These von Organisationssoziologin Judith Muster. Ihr Rat: Will man Organisationen auf Innovation eingrooven, dann sollte man zunächst auf dem „Mischpult“ der internen Strukturen die Regler in Richtung Innovationsfreundlichkeit verschieben.

Wie käme mehr Affinität fürs Experimentieren und Innovieren in die Firmen?

Eine Studie von McKinsey hat belegt, dass bei anstehender Transformation von Organisationen vor allem transformationserprobte Quereinsteiger an der Spitze erfolgreich waren, also Personen, die von außen gewonnen wurden, nicht Eigengewächse. In den wenigen Fällen, in denen die Sache trotzdem in die Hose ging, ging sie bei den Quereinsteigern zwar schlimmer in die Hose als bei den Eigengewächsen, man darf sich aber nicht an diesen wenigen Fällen aufhängen. Eine andere Studie der Boston Consulting Group und der TU München hat zudem gezeigt, dass das Thema Innovation signifikant damit korreliert, ob ein Unternehmen divers ist. Ob seine Führung divers ist.

Diversity ist ja tatsächlich ein Thema, das viele Unternehmen in jüngster Zeit stark beschäftigt hat.

Aber auf die falsche Weise. In besagter Studie kommen zum Beispiel Frauen erst an dritter Stelle. Viel wichtiger ist Diversität in Bezug auf Erfahrungsfelder, Branchen und Sektoren. Doch unprofessionelle Personalfunktionen und Diversity Manager denken zuerst an Zielgrößen für Gruppen statt an Diversity of Mind und an die Gewinnung disruptierender Führungskräfte. Und sie denken erst recht nicht – ambidexter – an die Diversifikation von Strukturen. Dabei gab es durchaus, vor zwölf, dreizehn Jahren, einmal eine Blütephase strategischer, geschäftsgetriebener Personalarbeit. Ich erinnere mich an so manche Kienbaum-Konferenz, die bei diesem Thema erste Sahne war.

Neun Merksätze für Führung in Transformationszeiten

Thomas Sattelberger hat in seiner Laufbahn als Vorstand des Passagiergeschäfts bei Lufthansa und Personalvorstand bei Continental und Telekom etliche schwere Krisen erlebt. Aus diesen bewegten Zeiten hat er neun „Merkposten“ in Sachen Führung abgeleitet, die aus seiner Sicht in Transformationszeiten zentral sind.

Und dann?

Dann hat sich der Fokus auf rein personallastig definierte Themen verschoben, was dazu geführt hat, dass diese Themen nicht nur die Aufmerksamkeit vieler interner HR-Profis, sondern auch die der HR-Professorinnen und -Professoren an den Hochschulen komplett gekapert haben. Man kann sich in seiner Blase ja unendlich lang mit solchen Themen beschäftigen – mit Antirassismusdebatten, mit Diversitykonferenzen … Was dagegen vergessen wurde, war: Wie verknüpft sich diese Kulturarbeit mit dem Geschäft? Das ist das eine. Die zweite Ursache für das Problem ist aus meiner Sicht – auch wenn das politisch unkorrekt ausgedrückt ist – die Femininisierung der Personalarbeit.

"Die Personalfunktion hat sich stark zu einer Caring-Funktion entwickelt. Was da Henne oder Ei ist, ist schwer zu sagen: Je strategieloser man wird, umso mehr fokussiert man sich auf die anderen Themen. Und je mehr man sich auf seine Caring-Funktion konzentriert, umso strategieloser wird man."

Dabei waren Sie selbst jemand, den Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel mal „den Quotenkönig“ genannt hat.

Ja, hat sie aber nicht positiv gemeint. Und als ich bei der Telekom war, habe ich – bezogen auf die Personalfunktion – auch das Thema Männerförderung gestärkt! Weil man, wenn man auf der einen Seite im Unternehmen immer diverser wird, in einem großen Resort aber immer homogener, ein Problem der Einseitigkeit bekommt. Tatsache ist, dass sich die Personalfunktion stark zu einer Caring-Funktion entwickelt hat. Was da Henne oder Ei ist, ist schwer zu sagen: Je strategieloser man wird, umso mehr fokussiert man sich auf die anderen Themen. Und je mehr man sich auf seine Caring-Funktion konzentriert, umso strategieloser wird man.

Um noch mal auf das Thema Diversity zurückzukommen: Zeigt sich nicht gerade da, dass Caring – im Sinne von „für möglichst diskriminierungsarme Bedingungen“ sorgen – auch eine Businessrelevanz hat?

Natürlich ist es in ethischer Hinsicht wichtig, sich für Diversität in Bezug auf Geschlecht, ethnische Herkunft usw. einzusetzen. Aber man sollte diesen ethisch-moralischen Case nicht mit dem Innovations-Case vermischen, wenn es einem darum geht, erfolgreicher Transformation den Boden zu bereiten. Dass wir jetzt mehr Frauen in Führungspositionen haben, ist ein moralischer Fortschritt. Aber bislang gibt es keine Belege dafür, dass in Deutschland die Zahl der Frauen in Vorstandsetagen mit erfolgreicher Transformation korreliert.

Welche Art von Diversity braucht es aus Ihrer Sicht denn dann, um die Transformation zu treiben?

Eine Diversity of Mind! Was ich meine, ist: Wir brauchen in den Unternehmen Menschen mit Brüchen und Vielfalt im Lebenslauf, solche, die keinen Branchengeruch haben, die unter Beweis gestellt haben, disruptiv handeln zu können. Wir haben die Diversity-Politik zu einer Quotenpolitik an der Spitze verkümmern lassen, was uns zudem fehlt, sind Biotope für Talente, die schräg im Stall stehen. Die brauchst du aber für Innovation. Und du brauchst Macht – Promotoren, die solche Menschen schützen. Solche, die eine risikoärmere Umgebung schaffen, in der solche Disruptoren nicht geschasst werden. Der Kybernetiker Ross William Ash hat einmal gesagt: „Nur die Unternehmen werden überleben, deren Varietät im Inneren mindestens so hoch ist wie die Varietät und Komplexität im Umfeld.“ Also, was heißt das? Ich muss gegen Homogenisierung des Denkens und Handelns antreten!

Aus Ihrem Buch geht hervor, dass Sie selbst immer stolz darauf waren, „schräg im Stall zu stehen“. Sie bezeichnen sich dort als Halbinsulaner ...

Wenn man als Spitzenführungskraft neu in ein Unternehmen gerufen wird, ist meist die Kacke am Dampfen. Deswegen habe ich mich immer als Grenzgänger verstanden und mich bemüht, möglichst unabhängig zu bleiben, mich auf Inhalte zu konzentrieren und nicht voll und ganz Teil des Systems zu werden. Dafür zahlt man einen Preis – den des Alleinseins. Aber man kann besser transformieren und erneuern, wenn man sich seine innere Unabhängigkeit bewahrt. Deswegen halte ich es ja auch für so wichtig, dass Menschen Unternehmer ihrer Talente werden. Dass sie nicht nur Jobability, sondern Employability und Marketability aufbauen, also die Fähigkeit, immer wieder eine qualifizierte Beschäftigung zu finden.

Stattdessen haben Sie den Eindruck, so schreiben Sie in Ihrem Buch, dass uns in Deutschland die Lust auf Leistung verloren gegangen ist, und machen das an Phänomenen wie der Debatte über die Vier-Tage-Woche fest.

Wenn die Lage anders wäre als jetzt, wenn wir die technologische Transformation bewältigt hätten, dann könnte man die sozialen Früchte einfahren. Dann könnte man über solche sozialen Experimente nachdenken. Aber gerade in Krisenzeiten halte ich solche Debatten für fatal. Die Margen in der Wirtschaft schrumpfen mehr und mehr. Es steht desolat um die Bildung. Wir haben immer mehr Sozialstaat und -transfer. Da ist es dramatisch, dass sich eine zähe Work-Life-Balance-Soße über unser Land ergießt. Sich aufraffen, anpacken, sich auch mal quälen, die eigene Handwerklichkeit schärfen passt nicht mehr in die herrschende Ideologie. Ich nenne das spätrömische Dekadenz.

Ist es nicht auch verständlich, dass sich gerade junge Leute angesichts eines Kapitalismus mit fragwürdigen Risiken und Nebenwirkungen nicht mehr krummlegen wollen?

Also, zum Beispiel die dänische oder auch die schweizerische Jugend sind da anders, die scheuen Anstrengung nicht. Dort herrscht ein ganz anderes Arbeitsethos.

Worauf führen Sie diesen Unterschied zurück?

Wenn wir uns zum Beispiel die Schweiz anschauen: Der Unterschied ist, dass sie ihre Innovationskraft nicht verloren hat und deutlich diversifizierter in ihrer Wirtschaft ist als Deutschland. ClimateTech, Künstliche Intelligenz, Pharma, Biotechnologie neben hoch angesehenem Handwerk und klassischer Industrie – es gibt dort viel mehr Optionen, Sinn in der Arbeit zu finden. Das liegt auch daran, dass wir zunehmend eine Auftraggeberökonomie geworden sind. Dass wir im Grunde immer mehr verlängerte Werkbänke haben, wo Menschen das ausführen, was sich irgendein anderer im Unternehmen ausgedacht hat. Das heißt: Das Erleben, dass man etwas schafft von Anfang bis Ende, wie es zum Beispiel Gründerinnen und Gründer haben, haben viele gar nicht mehr. Vor allem viele jüngere Experten, aber auch Managerinnen und Manager. Ich nenne das typische NoJobs. Übrigens hat die Schweiz auch noch etwas anderes, das es Menschen leichter macht, ein erfülltes Berufsleben zu führen und employable zu sein.

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Nämlich?

Dort findet die berufliche Ausbildung in vielen Feldern erst mal berufsbildübergreifend statt. Im kaufmännischen Bereich beispielsweise lernen alle in den ersten beiden Jahren zunächst zusammen, erst später beginnt die Spezialisierung. Frühe Spezialisierung, wie bei uns, fördert die Jobability, folgt also einer Deckelchen-aufs-Töpfchen-Philosophie: Man wird im Job schnell produktiv, später aber potenziell auch schneller optionsärmer, in Krisenzeiten schneller arbeitslos. Späte Spezialisierung hingegen verlangsamt am Anfang die Passung und Produktivität, aber damit steigt die Chance, rasch in andere Berufsbilder desselben Felds oder gar ein anderes Berufsfeld wechseln zu können, fördert also die Employability. Dies wäre, wie ich finde, auch für Deutschland ein guter Weg.

Die Zwiebelringe digitaler Transformation

Wie sich der Betriebsbegriff in Zukunft verändern könnte

1. Im innersten Zwiebelring haben wir es zwar noch mit Betrieben im klassischen Sinne zu tun, die jedoch stark mit Zeit- und Ortssouveränität operieren. Gelebt wird diese häufig hybrid in Präsenz- und Distanzarbeitswelten, die nicht zuletzt auch digitale Freelancer umfassen.

2. Der nächste Zwiebelring betrifft Crowdwork und Clickwork. Hier agieren keine klassischen Unternehmen mehr, sondern digitale Plattformen, die Angebote von Digitalworkern mit möglichen Kundenbedarfen matchen oder die Nachfrage möglicher Kunden mit Angeboten. 

3. Der folgende Zwiebelring ist die Gig oder Platform Economy: Gemeint sind die Amazons, Zalandos, Googles, und Ubers dieser Welt. Diese Ökonomie zeichnet sich dadurch aus, dass es einerseits eine Plattformzentrale mit einem fest beschäftigten Expertenkern gibt und andererseits einen oft vielfach größeren Teil an freien Fahrern, Paketboten, App-Entwicklern, meist von der Zentrale aus digital gesteuert. Merke: Beispiele wie das von Uber zeigen, dass man hier manchmal Old Work in New Business findet. Sprich: alte, direktive Formen von Führung und Zusammenarbeit trotz neuer Geschäftsmodelle. Der andere Fall: hohe Freiheitsgrade in der Breite der Organisation, aber eine feudale Spitze; Sattelberger nennt das „feudal-demokratische Unternehmung“.

4. Im äußersten Zwiebelring ersetzen Roboter und Automaten menschliche Arbeitskraft. Ob Roboter dabei Herr, Diener, Partner oder Menschenersatz sind, hängt davon ab, wie sich die Technologie weiterentwickelt. Wir Deutsche "mit unseren rosa Brillen" hoffen zwar laut Sattelberger auf humanzentrierte Roboterisierung. Wahrscheinlicher sei ein anderes Szenario, getreu dem ehernen Gesetz „Es wird alles digitalisiert, was sich digitalisieren lässt“. Dann treiben andere Länder mit weniger rosa Brillen, weniger Ethik und weniger Rücksicht dieses Thema voran. 

Quelle: Gekürzt nach: Thomas Sattelberger: Radikal neu – Gegen Mittelmaß und Abstieg in Politik und Wirtschaft. Herder 2023

Wenn wir uns das Thema der beruflichen Weiterbildung anschauen: Wie steht es aus Ihrer Sicht derzeit darum? Braucht die ebenso einen Booster wie die Berufsausbildung?

Eigentlich müssten die Unternehmen beides machen: Future Skills aufbauen, die sie als Firma brauchen, aber eben auch solche, die die Menschen über das spezifische und künftige Geschäft hinaus brauchen. Skills, die zum einen ihre Employability stärken und zum anderen ihre Innovationsfähigkeiten. Wir müssen also altruistisch-egoistisch denken. Neben den Schulen und Hochschulen, in denen sich auch viel ändern müsste, damit Menschen viel stärker Unternehmer ihrer eigenen Talente werden können, müssten auch Unternehmen dazu beitragen. Das wäre für mich eine weiterentwickelte soziale Marktwirtschaft. Aber dafür müssen Firmen auch bereit sein, Geschäftsmodelle zu transformieren, neue Spielbeine aufzubauen. Nur so können neue Skills auch zum Tragen kommen. Lernen und Geschäft sind untrennbar miteinander verknüpft.

"Unternehmen sollten bei der beruflichen Weiterbildung altruistisch-egoistisch denken. Das heißt, sie sollten Future Skills aufbauen, die sie als Firma brauchen, aber auch solche, die die Menschen über das spezifische und künftige Geschäft hinaus brauchen – Skills, die zum einen ihre Employability stärken und zum anderen ihre Innovationsfähigkeiten."

New Learning setzt also die schon angesprochenen dritten Räume voraus.

New Learning bedeutet genau das: Experimentierfreude. Ausprobieren. Mut, ins kalte Wasser zu springen. Intellektuelle wie auch sozio-emotionale Kompetenzen entwickeln und einsetzen. Also eigentlich all das, was übrig bleibt, wenn KI vieles übernimmt. Aber in einer Gefängniszelle übt man schwerlich Kreativität. Deswegen: no New Business, no New Learning, no New Work. Klar ist dabei auch: Wir werden die Republik nicht auf einmal transformieren können. Wir brauchen Übergänge und Brücken zu einem noch unbekannten neuen System. Und wir müssen dabei schon früh ansetzen. Deswegen habe ich zum Beispiel auch ganz klein eine gemeinnützige GmbH mitgegründet, die „Maker Tools“ und „Maker-Garagen“ an deutschen Schulen fördert, also dritte Räume, in denen Schüler sich kreativ austoben können. Und deswegen finde ich auch, dass Hochschulen sich transformieren müssen bis hin zu Innovations-Ökosystemen, die neben Forschung und Lehre Innovationsförderung betreiben. Im politischen Bereich brauchen wir zum Beispiel auch Bürger-Parlamente wie in Irland. Wir benötigen überall einen Ansatz dosierten Experimentierens. Denn die New Society und New Economy, die wir so dringend brauchen, können letztlich nur aus technologischen, sozialen, kulturellen und politischen Experimentierräumen kommen.

Der Interviewte: Thomas Sattelberger war ehemals Vorstand der Airline bei Lufthansa sowie Personalvorstand bei Continental und der Telekom. Nach seinem Wechsel in den Ruhestand stieg er in die Politik ein. Zwischen 2017 und 2022 war Sattelberger Mitglied des Deutschen Bundestages für die FDP und zwischen 2021 und 2022 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Auch nach seinem Ausstieg aus der Politik ist er ein streitbarer Kopf, in dessen Fokus insbesondere die Themen Transformation, Talent und Innovation stehen. Kontakt: thomas-sattelberger.de 

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