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Zum Tod von Hirnforscher Gerhard Roth
Zum Tod von Hirnforscher Gerhard Roth

Brillanter Brückenbauer

Gerhard Roth war einer der wichtigsten Neurowissenschaftler Deutschlands. Einer, dem es gelang, Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis zu schlagen. Der Biologe, der gleichzeitig Philosoph war, bereicherte die Weiterbildung und Personalentwicklung um wichtige Erkenntnisse zur Persönlichkeit und Veränderbarkeit des Menschen – und erhielt dafür im Jahr 2019 den Life Achievement Award der Weiterbildungsbranche. Nun ist der Ausnahmeforscher im Alter von 80 Jahren gestorben.

„Nur keine Angst vor schwierigen Problemen“ – dies sei sein Arbeitsmotto, verriet der Hirnforscher Gerhard Roth im Januar 2020 dem Magazin managerSeminare im Steckbrief „characters“. Tatsächlich bringt der Satz einen wesentlichen Wesenszug Roths auf den Punkt: Er war ein Mensch, der auch brisanten naturwissenschaftlichen, philosophischen und gesellschaftlichen Fragestellungen nie aus dem Weg ging. In seiner Forschung – und den Diskursen, die er darüber in der Fach- und Laienöffentlichkeit führte – ging es oft um elementare Fragen des Menschseins. Etwa um die Frage danach, ob es einen freien Willen gibt. Oder die Frage nach der Veränderbarkeit des Menschen. Die Antwort, die Roth auf Basis seiner empirischen Forschungsarbeit darauf gab, war für manche Weiterbildende schwer zu verkraften. Denn der Forscher erteilte naiven Vorstellungen von einer unkomplizierten Formbarkeit menschlichen Denkens und Handelns eine klare Absage. Doch gerade deswegen war seine Arbeit für die Branche von hohem Wert – weshalb Roth im Jahr 2019 bei den Petersberger Trainertagen des Verlages managerSeminare auch mit dem Life Achievement Award (LAA) der Weiterbildungsbranche ausgezeichnet wurde. Am 25. April 2023 ist der Wissenschaftler – für viele überraschend – gestorben.

Roth war stets interdisziplinär orientiert

Roths akademischer Werdegang war so vielfältig wie sein Wirken: Der gebürtige Marburger hatte zuerst Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie studiert (und in Philosophie promoviert), bevor er sich dem Studium der Biologie zuwandte und einen Doktortitel in Zoologie erwarb. 1976 wurde er Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie an der Universität Bremen und war dort maßgeblich am Aufbau der Neuro- und Kognitionswissenschaften beteiligt. „Mit seiner Energie und Weitsicht machte er Bremen für diesen Forschungsschwerpunkt innerhalb und außerhalb Deutschlands sichtbar“, schreibt die Hochschule in einem Nachruf auf ihrer Website. „Getragen von den Leitmotiven Interdisziplinarität, Internationalisierung und Nachwuchsförderung“ habe sich Roth in Bremen zudem für die Gründung des Instituts für Hirnforschung, des Zentrums für Kognitionswissenschaften und für den DFG-Sonderforschungsbereich „Neurokognition“ engagiert. Außerdem war er von 1997 bis 2008 Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs und (von 2003 bis 2011) Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes. In dieser Position setzte sich Roth besonders für die Erhöhung des Anteils von Stipendiaten mit Migrationshintergrund sowie von Stipendiaten aus nicht akademischen Familien ein.

Gerhard Roth Sarah Lambers/www.managerseminare.de

Dieses soziale Engagement brachte dem Forscher – neben seinen herausragenden wissenschaftlichen Verdiensten – im Jahr 2011 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse ein. Und es passt gut ins Bild eines Menschen, dem elitäres Gehabe ebenso fremd war wie intellektueller Dünkel. Stattdessen bemühte sich Roth, wie die Uni Bremen in ihrem Nachruf schreibt, stets darum, „komplizierte Inhalte in Büchern und Vorträgen anschaulich zu vermitteln“. Bekannt wurde er einer breiteren Öffentlichkeit 1996 mit seinem Buch „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“. Es folgten Werke wie „Fühlen, Denken, Handeln“, „Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern“, „Kopf oder Bauch: Zur Biologie der Entscheidung“, „Wie das Gehirn die Seele macht“, „Bildung braucht Persönlichkeit“ und „Coaching, Beratung und Gehirn“, ein Buch, das Roth im Jahr 2016 gemeinsam mit Coachingausbilderin und Coach Alica Ryba publiziert hatte.

Ryba, die elf Jahre lang mit Roth zusammengearbeitet hat, erinnert sich auf der Businessplattform LinkedIn an ihn als einen Wissenschaftler, „der sich in seiner Arbeit immer den höchsten wissenschaftlichen Standards und der ,Wahrheitsfindung‘ zugewandt“ habe. Ihr habe das ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Für einige andere dagegen, so Ryba, „mag seine Sicht der ,Wahrheit‘ zu begrenzend und manchmal vielleicht auch zu pessimistisch gewesen sein“.

Anfang der Nullerjahre versetzte Roth beispielsweise Teile der Geisteswissenschaften in Aufruhr, als er mit der Erkenntnis an die Öffentlichkeit ging, dass unser Gehirn Entscheidungen, die wir für unseren freien Willen halten, vorher längst unbewusst getroffen hat. Das führte unter anderem zur Debatte darüber, wie gerecht unser Rechtssystem ist – das schließlich auf der Idee des freien Willens fußt, also davon ausgeht, dass sich ein gesunder Mensch in einer Situation stets auch anders (als zum Beispiel für ein Verbrechen) hätte entscheiden können. Doch, so schreibt der FAZ-Feuilletonist Christian Geyer-Hindemith in seinem Nachruf auf den Biologen und Philosophen: „Roth wehrte sich dagegen, als neurowissenschaftlicher Reduktionist wahrgenommen zu werden.“ Stattdessen galten ihm andere Disziplinen „als notwendiger Erkenntnisrahmen, ohne den physiologische Beobachtungen in Form bunter Hirnscans bar jeder Bedeutung wären“. Umgekehrt erwartete er aber auch, dass sich diese anderen Disziplinen für Neurobefunde öffnen.

Roths Erkenntnisse zeigten, dass Menschen nur schwer veränderbar sind

Relevant für die Weiterbildungspraxis ist nicht zuletzt Roths Erkenntnis, dass biologische Prozesse schon sehr früh im Leben eines Menschen dessen Persönlichkeit formen. Dass die Formbarkeit unserer Persönlichkeit mit den Jahren abnimmt. Und auch, dass wir unsere Persönlichkeit kaum über das Denken allein weiterentwickeln können.

In der Keynote, die er 2019 bei den Petersberger Trainertagen anlässlich der Verleihung des Life Achievement Awards hielt, sprach Roth von der „Tragik unseres Verstandes“: Wollen wir uns – allein ausgehend von der Verstandesebene – ändern, dann gelingt uns das meist nicht. Denn unsere Persönlichkeit arbeitet gegen uns. Diese Persönlichkeit ist, so legte es Roth dar, tief in Hirnregionen verankert, zu denen es von der kognitiv-sprachlichen Oberfläche unseres Großhirns aus überhaupt keine anatomische Verbindung gibt; ergo haben wir auch keinen direkten Zugriff darauf.

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Roths Forschung lieferte allerdings nicht nur Dämpfer für Change-Apologeten, die meinen, dass sich Menschen per auf der Verstandesebene getroffenem Beschluss oder gar Aufforderung der Personalentwicklung ändern können. Er zeigte auch auf, wie persönliche Veränderung – bei aller Schwierigkeit – dennoch gelingen kann.

In einem Interview mit managerSeminare-Chefredakteurin Nicole Bußmann erklärte Roth im Herbst 2018, dass es zunächst einmal entscheidend sei, dass sich ein Mensch auf einer tiefen Ebene selbst verändern wolle. Und das sei genau dann der Fall, wenn sein Gehirn zu dem Schluss kommt, dass durch die Veränderung sehr wahrscheinlich ein persönliches Motiv befriedigt wird, ob materiell, sozial oder intrinsisch. Das Gehirn schütte dann sogenannte endogene Opioide – Belohnungsstoffe also – aus. Auf Dauer zähle jedoch die „intrinsische Belohnung“. Sie entsteht laut Roth daraus, dass eine Aufgabe langfristig zur Persönlichkeit eines Menschen passt bzw. auf dessen intrinsische Motive einzahlt. So etwa auf das Bedürfnis, anderen zu helfen. Aber auch darauf, zum Beispiel als introvertierte Person nicht zu häufig mit anderen in Interaktion treten zu müssen. Ein wichtiges Fazit Roths in Sachen PE lautete daher: Um Mitarbeitende weiterentwicklen zu können, muss die Personalentwicklung deren Persönlichkeit und Motivation erst einmal sehr gut kennen. Und außerdem muss sie ihnen persönlichkeitsgerechte Entwicklungsziele anbieten.

Der Forscher ging selbst unter die Weiterbildungsanbieter

Trotz seiner Kritik an manchen Angeboten der Trainings- und Coachingszene stand Roth der Branche keineswegs ablehnend gegenüber, im Gegenteil: „Er war offen dafür, auch von mir als Coach zu lernen“, erinnert sich Weggefährtin Ryba. Zudem sei Roth stets bereit gewesen, seine „Wahrheit“ anzupassen, neue Erkenntnisse einzubeziehen und sich auf die Suche nach wissenschaftlichen Erklärungen für Praxiserfahrungen zu machen.

Roth wurde auch selbst zum Akteur am Weiterbildungsmarkt: 2008 gründete er die Beratungsfirma Roth GmbH und im Jahr 2016 das Roth-Institut Bremen. Dieses offeriert Angebote zu Themenfeldern wie Neuro-Leadership, Neuro-Coaching, Stress- und Changemanagement – alles natürlich orientiert an Roths Forschungserkenntnissen.

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