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Stressoforscher Patrick Kury im Interview

'Früher fuhr man zur Kur, heute optimiert man sich'

Der Markt der Anti-Stress-Trainings ist kaum zu überblicken. Gleichzeitig klagen die Menschen immer mehr über Stress und die Folgen. Stecken sie in der Selbstoptimierungsfalle? Der Schweizer Historiker Patrick Kury meint: ja. Im Interview erklärt er, warum ein Blick in die Stress-Geschichte helfen könnte, bessere Lösungen für das heutige Problem zu finden.

Herr Dr. Kury, Sie haben sich als Historiker mit der Geschichte der Phänomene Stress und Burnout auseinandergesetzt. Wo liegen, historisch gesehen, deren Wurzeln?

Dr. Patrick Kury: Die Wurzeln von Belastungsphänomenen und -krankheiten wie Stress und Burnout kann man schon in den 1880er-Jahren verorten. Damals war Neurasthenie ein großes Thema. Die Nervenschwäche war die erste Krankheit, die in der Literatur mit modernen Lebensumständen, technischen Innovationen, neuen Kommunikationsmöglichkeiten und der Beschleunigung in Verbindung gebracht wurde. Man nahm an, dies alles schwäche die Nervenkraft. Neurasthenie wurde zu­­erst in den USA in ein Krankheitskonzept gefasst und hatte bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs Hochkonjunktur – vor allem bei den bürgerlichen Eliten. In den 1920er-Jahren verlor sie als Krankheitskonzept jedoch rasch an Bedeutung. In den 1950er-Jahren machte die soge­nannte Managerkrankheit als neue Belastungskrankheit Furore. Sie war als deutsche Besonderheit eng mit den Heraus­forderungen des Wiederaufbaus verknüpft und konstituierte sich vor allem in Herz-Kreislauf-Störungen. Seit den 1970er-Jahren sprach die Wissenschaft dann auch im deutschsprachigen Raum vermehrt vom angelsächsischen Begriff 'Stress' im Sinne einer Reaktion auf psychosoziale Belastungen. Ab den 1990er-Jahren, als der Druck durch Flexibilisierung, Deregulierung und Digitalisierung der Wirtschaft wieder zu­­nahm, wurde Stress von der Wissenschaft wie auch der Bevölkerung dann zunehmend für die Entstehung von Krankheiten wie Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Problemen und später dann dem Erschöpfungssyndrom Burnout verantwortlich gemacht.

Bedeutet das, was wir heute Stress und Burnout nennen, gab es eigentlich schon immer, bloß unter anderem Namen?

Kury: Nein, das kann man so nicht sagen. Man kann auch nicht sagen, es ist die Wiederkehr des Immergleichen. Jede Epoche produziert ihre eigenen Erschöpfungen und Krankheiten sowie Konzepte, unter denen diese Erscheinungen zusammen­gefasst und benannt werden. Das geschieht jeweils im Dialog mit dem technischen
und medizinischen Wandel. Deshalb basieren Neurasthenie, Managerkrankheit und Burnout auf sehr unterschiedlichen Körpervorstellungen – was auch weitreichende Folgen für den Umgang mit diesen Krankheiten hat.

Inwiefern unterscheiden sich die Körper- und Krankheitskonzepte denn?

Kury: Im Zeitalter der Neurasthenie und auch noch der Managerkrankheit war man der Meinung, der Mensch funktioniere wie eine Maschine, die bei Überlastung irgendwann erschöpft ist. Diese Maschinenmetapher hatte viel mit dem damaligen Stand der Technik zu tun. So wurde der Körper im Krankheitskonzept der Neurasthenie vor allem mit dem neu entdeckten Elektrizitätskreislauf verglichen. Bei der Managerkrankheit übertrug man die neuen Automatisierungskonzepte der Industrie auf den Körper. Dem modernen Stress-Begriff liegt dagegen ein dynamisches Körperkonzept zugrunde, das zum Zeitalter der Flexibilisierung und Deregulierung passt. Burnout als stressbedingte Krankheit wird so verstanden, dass dabei das körperliche und seelische Gleichgewicht aus dem Takt gekommen ist. Verantwortlich gemacht werden fehlgeleitete Hormone, also Botenstoffe. Darin lässt sich eine Analogie zum Zeitalter der Digitalisierung und Kommunikation erkennen. Die unterschiedlichen Konzepte haben es den Menschen in ihrer Zeit jeweils ermöglicht, in einer Sprache, die sie verstehen, über ihre Belastungen zu sprechen.

Haben die Krankheitskonzepte bei allen Unterschieden also eine ähnliche Funktion?

Kury: Ja. Sie helfen, ein diffuses Unbehagen und Leiden zu artikulieren, ohne damit negativ aufzufallen. Stress und Burnout sind heute ebenso positiv besetzt wie die Neurasthenie und Managerkrankheit damals, nach dem Motto: Wer ausgebrannt ist, muss vorher auch gebrannt haben. Alle drei Krankheitskonzepte entlasten das Individuum also auf gesellschaftlich anerkannte Weise. Sie stellen legitime Formen dar, sich eine Auszeit zu nehmen. Das Besondere am Stress- und Burnout-Konzept ist aber: Hierbei wird angenommen, dass das aus dem Takt geratene Gleichgewicht durch individuelle Anpassungsleistungen wiederhergestellt werden kann. Im Fall der Neurasthenie und Managerkrankheit war das noch anders: Da galt die Erschöpfung noch als mehr oder weniger irreparabel. Alles, was man glaubte, dagegen tun zu können, war, zur Kur zu fahren und sich ein paar Monate zu erholen.

Es scheint eine positive Entwicklung zu sein, dass wir heute davon ausgehen, aktiv etwas gegen unseren Stress tun zu können.

Kury: Das kommt drauf an. Wir haben heute in der Tat ein Riesenangebot an psychologischer und psychosomatischer Be­­treuung und Unterstützung. Es gibt unzählige Workshops, Trainings und Be­­ratungsangebote, die beim sogenannten Stress-Management helfen wollen. Aber genau das ist auch ein neues, bisher nicht dagewesenes Problem: Heute muss man sich selbst immer wieder neu justieren. Das dauernde Reden über Stress und die Möglichkeiten, die dem Individuum angeboten werden, um seinen Umgang mit Stress zu verbessern, zwingen es auch zur ständigen Selbstoptimierung.

Was dann wieder neuen Stress macht ...

Kury: So ist es. Wir müssen aufpassen, nicht in einer Spirale zu landen, aus der wir nicht mehr herausfinden. Das Problem besteht vor allem darin, dass sich der gesamte Stress-Diskurs in Wissenschaft und Gesellschaft in den vergangenen Jahren stark auf das Individuum verlagert hat. Das war nicht immer so. Noch in den 1970er-Jahren machte man sich, beeinflusst nicht zuletzt durch die schwedische Forschung, stärker Gedanken über Stress als gesamtgesellschaftliches Phänomen. Die schwedischen Wissenschaftler gingen davon aus, dass die Möglichkeiten des Einzelnen nicht unbegrenzt sind und dass sich die Ökonomie danach zu richten hätte. Diese Vorstellung ist aber mit den Jahren im Zuge der gesellschaftlichen Individualisierung verloren gegangen. Insbesondere die Psychologie hat heute ein stark auf den Einzelnen ausgerichtetes Stress-Verständnis. Die Herausforderung, mit dem Stress klarzukommen, wird so­­mit fast ausschließlich an das In­­­­dividuum delegiert. Dabei zeigt die historische Betrachtung: Stress-Phänomene sind an die gesamt­gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geknüpft. Es sind diese Bedingungen, die immer wieder zu ernst zu nehmenden psychischen und physischen Störungen führen, in welcher Manifestation das auch ge­­schieht – ob als Neurasthenie, Managerkrankheit oder Burnout. Daher müsste sich der Diskurs stärker vom Einzelnen auf die politische und sozialwissenschaftliche Ebene verschieben, wenn wir nicht immer wieder neuen Stress reproduzieren wollen. Auch die Managerkrankheit verschwand seinerzeit nicht zuletzt deshalb, weil der Arbeitsdruck damals tatsächlich nachließ. Zu verdanken war dies vor allem den Gewerkschaften, die humanere Arbeitszeiten und mehr Urlaubszeiten durchsetzen konnten.

(Dr. Patrick Kury lehrt Geschichte an der Universität Bern. Seine Habilitationsschrift erschien 2012 im Campus Verlag unter dem Titel 'Der überforderte Mensch – Eine Wissengeschichte vom Stress zum Burnout'.)

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