Julia Culen in Speakers Corner
Julia Culen in Speakers Corner

„Der Purpose steckt in einer Sinnkrise“

​Pupose ist in Mode, kaum ein Unternehmen, das sich nicht mit dem Begriff schmückt. Die Managementvordenkerin und Beraterin Julia Culen findet, das führt in eine falsche Richtung. Purpose wird so zum puren Marketing- und Optimierungsinstrument degradiert. Viel wichtiger ist es laut Culen, zuerst einmal die eigenen Produkte und Produktonsweisen im Hinblick auf deren sozialen und ökologischen Nutzen zu hinterfragen.​

Es ist wieder einmal so weit. Erneut hat ein Thema ein ähnliches Schicksal erlitten wie Mindfulness und Agility. Jetzt ist der Purpose dran. Er hat es von einem Begriff, dem man anfangs mit großem Unverständnis begegnet ist, in den Mainstream geschafft. Purpose ist jetzt ein Must-have – wie ein neues Accessoire. Damit ist der Begriff von einem eigentlich guten, hoffnungsfrohen Ausgangspunkt in die absolute Banalität gefallen. Er ist in den Kanon „Werte, Mission, Vision“ integriert worden – und damit zur leeren Worthülse geraten.

„Purpose-driven“ sagt eigentlich schon alles: Der Purpose ist das, was ein Unternehmen, dessen Mitarbeitende und hoffentlich auch die finanziellen Ergebnisse vorantreibt – mit dem angenehmen Gefühl, etwas wirklich Sinnvolles zu machen. Wer keinen „Purpose“ findet, weil es wenig gibt, kann einfach einen Purpose erfinden. Das heißt, den alten Wein in einen neuen Purposeschlauch füllen und das Ganze dann fein nach innen und außen vermarkten. Das „Why“ unterscheidet sich nämlich in einem Punkt ganz entscheidend vom „What“ und „How“: Es ist nicht überprüfbar und damit auch nicht angreifbar. Der Purpose hat keine materielle Dimension, sondern eine mental-spirituelle, und er wird über Sprache, Bilder und Geschichten transportiert. Vielen Unternehmen ist damit ein echter Kunstgriff gelungen: Sie müssen auf diese Weise gar nicht erst verändern, was sie tun und wie sie es tun. Sie erzählen einfach nur eine neue Geschichte darüber, warum sie etwas tun.

Wenn wir genauer hinsehen, können wir fünf wesentliche Dynamiken und sich wiederholende Muster erkennen, die in Variationen zu einem ähnlichen Ergebnis führen – nämlich transformative Konzepte so lange zu verkrüppeln, bis sie ins alte Narrativ passen. Bis sie den Status quo stabilisieren, statt ihn zu transformieren.

Das erste Muster ist die Dekontextualisierung: Man reißt Konzepte aus ihrem Zusammenhang. Beispiel: Mindfulness. Achtsamkeit ist eigentlich eine von acht wesentlichen Kulturpraktiken des Buddhismus („achtfacher Weg“) und entfaltet ihre Wirksamkeit durch die Einbettung in Weisheitslehren und andere spirituelle Praktiken. Aus dem Zusammenhang gerissen, ist Mindfulness in vielen Fällen zur seelenlosen Konzentrationsübung mit dem Zweck der Steigerung der Leistungsfähigkeit geworden. Und auch die Frage nach dem Sinn und Zweck – dem Purpose – ist eine große philosophische Frage des Lebens und Teil therapeutischer Konzepte. Von diesem Kontext aber ist beim Purpose, wie ihn Unternehmen verstehen, nichts mehr vorhanden.

Das zweite Muster ist die Kommerzialisierung: Aus tiefgründigen Konzepten werden (Beratungs-)Produkte gemacht. Die Versuchung, Trendthemen in Produkte zu verwandeln und zu vermarkten, ist groß. Die Unternehmensberatung BCG zum Beispiel hat mit Brighthouse eine eigene Purpose-Consulting-Tochter gegründet. Das Geschäft boomt, Purpose ist ein „Ding“ geworden, das man auf dem Markt kaufen kann. Je komplexer der Prozess, desto teurer die Beratung. Dabei liegt die wirkliche Kraft in den einfachen Prozessen, in den simplen Fragen und den authentischen Antworten.

Das dritte Muster ist die Verzweckung: Man versteht ein komplexes Thema schlicht als „Tool“, um die eigenen Ziele zu erreichen. Purpose wird insofern als Werkzeug zum Erreichen der Unternehmensziele verstanden: Employer Branding, Employee Satisfaction, Performance Culture, Innovationskraft – alles besser dank Purpose. Daran ist grundsätzlich nichts Verwerfliches. Aber nur dann nicht, wenn die Orientierung an einem Purpose tatsächlich dazu führt, auf innovative Ansätze zu kommen und nicht, wenn das Reden über Purpose dazu dient, die bestehenden Schwächen zuzudecken und dem alten Haus einen neuen Anstrich zu geben.

Das vierte Muster ist die Banalisierung: Das Thema wird all seiner spirituellen und mentalen Aspekte beraubt. Ob Mindfulness, Agility oder Purpose – all diese Konzepte stammen ursprünglich aus tief gehenden Erkenntnisprozessen, teilweise aus jahrtausendealten Weisheitstraditionen. Da wir aber auch das Spirituelle materialisieren müssen – sonst stünden wir ja unter grobem Esoterikverdacht –, müssen diese Teile ausgeblendet werden. Es bedurfte großer Anstrengung, Dinge wie Meditation und Mindfulness aus der spirituellen Ecke in den säkular-professionellen Mainstream zu bringen. Leider blieben damit die tiefere Dimension und transformative Kraft der Konzepte auf der Bewusstseinsebene auf der Strecke.

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Das fünfte Muster ist Egozentrierung: Bei Konzepten wie Achtsamkeit und Purpose ist der Blick ständig darauf gerichtet, wie sie der eigenen Optimierung dienen können. Die Egozentrierung ist das Paradigma, aus dem sich unser gesamtes Wirtschaftssystem und unsere Gesellschaft derzeit speisen. Wir benehmen uns wie kleine Kinder, die sich im Zentrum der Welt wähnen, noch nicht teilen können und nur auf die Befriedigung ihrer unmittelbaren Überlebensbedürfnisse schauen, getrieben von Gefühlen der Getrenntheit, des Mangels und der Gier. Purpose wird daher als Werkzeug verstanden, um sich selbst Vorteile zu verschaffen. Das führt in eine völlig falsche Richtung.

Es geht darum, die Frage neu zu stellen. Weg von „Wie kann ich Purpose nutzen, um ein größeres Stück vom Kuchen zu bekommen?“ hin zu „Angesichts der Situation der sozialen und ökologischen Umwelt, in die wir eingebettet sind: Wie können wir einen Beitrag für die positive Entwicklung leisten? Im Vertrauen darauf, dass genau das auch zu unserer eigenen positiven geschäftlichen Entwicklung beiträgt?“. Dies ist eine integrative Sichtweise, die nicht im mentalen Entweder-oder mündet, sondern im Sowohl-als-auch-Raum lebt, also im Profit- und Purpose-Raum. Nicht im Wir-oder-die-anderen-, sondern im Wir-und-die-anderen-Raum. Dies ist ein Raum, in dem sich ein Unternehmen eingebettet in ein unmittelbares Umfeld erlebt. In dem die Verantwortung für das eigene Handeln nicht bei den eigenen Grenzen endet. Denn kein Unternehmen kann ohne den Rest der Welt existieren. Jedes Unternehmen ist verbunden mit der Gesellschaft und deren Leistungen wie Infrastruktur, Ausbildung und Finanzsysteme. Die Vernetzung der Welt – physisch, digital, emotional, mental – hat ein Ausmaß angenommen, das dazu führt, dass alle auf alles wirken. Ganzheitlich zu denken, heißt: Wir zerlegen die Dinge nicht und blenden keine Teilaspekte aus – zum Beispiel die Umweltschäden, die wir zwar nicht direkt zahlen, aber verursachen. Stattdessen beziehen wir wie erwachsene Menschen die Auswirkung unseres Handeln auf unsere Umwelt mit ein.

Wenn wir zurück zum Purpose kommen, möchte ich gerne eine alternative Vorgehensweise vorschlagen: Don’t start with the Why. Anstatt zu versuchen, dem aktuellen „What“ und „How“ ein halbwegs schlüssiges und möglichst hochtrabendes „Why“ zu verpassen, könnten Unternehmen – alte wie neue – hinterfragen, ob das, was sie tun und wie sie es tun, ganz konkret positiv zur gesellschaftlichen und ökologischen Entwicklung beiträgt: Ist das, was wir produzieren, noch zeitgemäß? Ist es noch angemessen, wie wir es produzieren? Passt dies noch in ein Zeitalter der massiven Klimabedrohung, steigender Ungleichheit und Re-Regionalisierung? Was sind unsere derzeitigen Fähigkeiten, Kernleistungen und Produkte? Wie könnten wir diese angemessen weiterentwickeln? Welchen Umgang und welche Unternehmenskultur pflegen wir und wie sehr trägt diese zu unserem eigenen Wohlbefinden bei – mental, emotional, wirtschaftlich? Nehmen wir mal an, unser kollektiver und übergeordneter Purpose lautet „einen positiven Beitrag zur Entwicklung der Welt zu leisten“ oder anders: mehr zu geben als zu nehmen: Wie würde dann unser konkreter Purpose lauten?

Wenn sie diese Fragen beantworten würden – ernsthaft und mit Tiefe – dann müssten sich für viele Unternehmen ganz konkrete Veränderungen in Prozessen, Einkauf, Führung, Produktionsstandards und vielem mehr ergeben. Unternehmen dieses neuen Typs verbinden soziale mit ökologischer Verantwortung, arbeiten beispielsweise fast ausschließlich mit Recyclingprodukten und sorgen für eine zirkuläre Warenwirtschaft. Sie gehen Kooperationen mit Stiftungen ein und sind vernetzt in der Community, in der sie sich befinden. Andere Unternehmen reduzieren ihren Abfall und Energieverbrauch, heben die Mindestlöhne an, bieten inklusive und offene Unternehmenskulturen. Sie starten nicht einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Projekte, Nachhaltigkeit beziehungsweise „Regenerativität“ wird vielmehr Teil ihrer Grundfeste. Sie machen mit guten Produkten gute Profite und ziehen nebenbei die besten Talente an. Den Purpose muss man dann nicht mehr lange suchen oder (er)finden: Er erschließt sich von selbst, ist offensichtlich und authentisch gelebt – und macht das Implizite explizit.

<strong>Julia Culen ...</strong>

Julia Culen ...

... ist Beraterin und Unternehmerin. Sie ist Co-Founderin der Conscious Consulting Group und begleitet Unternehmen und Führungsteams bei deren Transformationsprozessen. Kontakt: ccg-group.eu 

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