Johannes Thönneßen in Speakers Corner
Johannes Thönneßen in Speakers Corner

„Führung ist überflüssig“

​Die Publikationen und Debatten über Merkmale guter Führung oder die Charakteristika erfolgreicher Leader reißen nicht ab. Eigentlich müsste uns das misstrauisch machen, findet der Berater Johannes Thönneßen. Sein Verdacht: Der ständige Drang, zu definieren, was der „richtige“ Führungsstil ist und was gute Leader ausmacht, ist ein Indiz dafür, dass das Konstrukt Führung eigentlich auf tönernen Füßen steht und seine Daseinsberechtigung mühsam unter Beweis stellen muss.​

Über Führung sollte doch eigentlich längst alles gesagt sein, oder? Trotzdem erscheint eine Publikation nach der anderen über das Thema. Dabei werde ich den Eindruck nicht los, dass sich alles ständig wiederholt. Es gibt nach wie vor „Studien“ zum idealen Führungsstil, zur Führungspersönlichkeit, zu Führungstalenten, zur Erwartung an Führung, zur Wirkung von (schlechter und guter) Führung. Es werden stets die gleichen Aufgaben von Führungskräften betont: Die Führungskraft als Coach, Förderer, Ermöglicher, Dienstleister, Diener, Visionär, Motivator, Personalentwickler, Stratege, Entscheider, Moderator, Sinnstifter etc. Und es gibt immer noch Veröffentlichungen, die sich mit der „charismatischen Führungskraft“ beschäftigen.

In Trainings, Ratgebern und Lehrbüchern finden sich die stets gleichen Modelle: Situatives Führen, transaktionales und transformationales Führen, direktive, partizipative oder Laissez-faire-Führung, um die bekanntesten zu nennen. Tatsächlich werden diese Modelle Führungskräften bis heute präsentiert, und immer wieder geht es um die Frage: Was ist der „richtige“ Führungsstil? Richtig im Sinne von „Welches ist der erfolgreichste von allen?“. Wobei die Definition von Erfolg ja schon schwierig ist. Meist geht es um wirtschaftlichen Erfolg – aber woran misst man dann den Erfolg von Führungskräften in Behörden, in Krankenhäusern, in Non-Profit-Organisationen? Und wie in einzelnen Abteilungen, deren Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens nicht immer ohne Weiteres analysierbar ist?

Wenn es also offenbar sehr schwierig ist, erfolgreiche von weniger erfolgreicher Führung zu unterscheiden – wäre dies möglich, müsste der „ideale“ Führungsstil ja längst „entdeckt“ worden sein –, wie schaut es dann aus mit den Menschen, die Führungspositionen innehaben? Solche „Studien“ (ich nutze die Anführungszeichen, weil die entsprechenden Erhebungen oft nicht den Standards wissenschaftlichen Arbeitens gerecht werden) gibt es natürlich zuhauf: Man befragt Führungskräfte, die besonders erfolgreich (und hier meist in der Tat wirtschaftlich erfolgreich) sind und erklärt dann, was die Welt von ihnen lernen kann. Oder man befragt Mitarbeitende, um zu erfahren, welches Verhalten bei diesen Höchstleistungen, Wohlbefinden oder beides gleichzeitig erzeugt. Die Ergebnisse sind stets die gleichen: Das Verhalten müsste partizipativ, fordernd, fördernd, empathisch, authentisch, visionär, begeisternd, unterstützend, delegierend, wertschätzend usw. sein.

Die Frage ist, wenn das alles bekannt und ausreichend „untersucht“ ist, wieso werden dann die gleichen Betrachtungen immer wieder aufs Neue angestellt? Und warum gibt es dieses Phänomen nicht bei anderen Berufsgruppen, also beispielsweise die hundertste Studie zum Thema „Was macht einen erfolgreichen Arzt aus?“, „Was charakterisisiert einen erfolgreichen Automechaniker?“ oder „Welche Eigenschaften sind entscheidend bei einem erfolgreichen Wissenschaftler“? Meine Hypothese lautet: Der Unterschied besteht darin, dass Führung gar keine Berufsgruppe ist, sondern ein Konstrukt, um zu rechtfertigen, dass man Menschen in Positionen hievt, auf denen sie anderen Vorschriften machen und Macht über sie ausüben können, auf denen sie mehr Einfluss haben und mehr Einkommen erzielen können als andere. Und dieses Konstrukt bedarf seinerseits (im Gegensatz zu echten Berufsgruppen wie Ärzten, Automechanikern und Wissenschaftlern) einer Rechtfertigung. Polemisch? Und ob ...

Bevor Sie jetzt protestieren und erwidern, dass es natürlich so etwas wie Führung gibt, weil Sie diese schließlich täglich selbst erleben oder sogar persönlich ausüben, lassen Sie uns einmal einen Blick auf das werfen, was diejenigen tatsächlich tun, die sich Führungskraft nennen. Los geht's, wobei die folgende Liste keine Vollständigkeit beansprucht: Führungskräfte treffen Entscheidungen. Sie sitzen Besprechungen vor und haben darin den größten Gesprächanteil. Sie vertreten Teams, Abteilungen, Bereiche, Unternehmen, Organisationen nach außen. Sie entwickeln Strategien und hieraus Maßnahmen, die andere umsetzen. Sie präsentieren Ergebnisse, die andere erzielt haben. Sie vermitteln bei Konflikten und lösen diese bei Bedarf. Sie kontrollieren die Ergebnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie geben den Mitarbeitenden Rückmeldungen über deren Leistung und ihr Verhalten. Sie urteilen über Menschen, legen fest, was diese in Zukunft tun dürfen, und wie viel Geld sie dafür bekommen. Sie entscheiden, wer einen Job bekommt und wer ihn verliert, wer befördert wird und wer nicht. Sie sitzen mit ihresgleichen in Meetings, erhalten dort exklusive Informationen und entscheiden, welche sie in welcher Form an ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen weitergeben. Wenn Mitarbeitende Probleme haben, stehen diesen die Türen offen für ein Gespräch. Außerdem übernehmen Führungskräfte noch jede Menge fachlicher Aufgaben, je tiefer sie in der Hierarchie angesiedelt sind, umso mehr.

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Da stellt sich die Frage, wie man all das in einer Definition von Führung unterbringen will. Die gängigste Version, die ich kenne, lautet: „Führung ist die bewusste und zielbezogene Einflussnahme auf Menschen." (Hier entnommen aus: Friedemann W. Nerdinger, Arbeits- und Organisationspsychologie, Springer 2014). Mit dieser Erklärung jedoch konnte ich noch nie etwas anfangen: Was ist dann Lehren? Was ist Erziehen? Was ist Werbung? Was Politik? Was Training? Dabei geht es schließlich auch um Einflussnahme. Da gefällt mir diese Definition schon besser: „Als Führung wird das bezeichnet, was Führungskräfte tun.“ Ich konkretisiere diesen Zirkelschluss mal und behaupte: Wir benötigen dieses Konstrukt „Führung“ gar nicht. Wir können all die Aufgaben, die oben aufgeführt sind, ziemlich genau beschreiben, und in der Regel können wir auch sehr genau sagen, wie man diese Aufgaben erfolgreich bewältigt. Warum müssen wir all das unter einem begrifflichen Dach versammeln? Nur aus einem Grund: Weil es nun mal Führungskräfte gibt, und die müssen schließlich ihre Daseinsberechtigung haben.

Drastisch ausgedrückt: Man braucht Visionäre, Entscheiderinnen, Vermittler, Mentorinnen, Strategen, Feedback-Geberinnen, Coachs, Fachleute ... Aber braucht man wirklich Menschen, die all die genannten Funktionen in sich vereinen? Geht das eigentlich wirklich? Warum muten wir einzelnen Menschen all das zu? Müsste es nicht völlig klar sein, dass kaum jemand in der Lage ist, in allen Bereichen Höchstleistungen zu erbringen? Mag sein, dass es hier und dort Talente gibt, die dazu in der Lage sind. Für den Rest erstellen wir Trainingsprogramme, Führungskräfteentwicklungsprogramme, 360-Grad-Feedback-Systeme und Ähnliches mit dem Versprechen, damit aus den überforderten Personen auf Führungspositionen bessere Führungskräfte zu machen – wohl wissend, dass dies nicht gelingen kann. Aber wer wird das zugeben? Sicher nicht die Personalentwicklungsabteilungen, die Berater, Trainer und sonstigen Experten. Dennoch: Je mehr junge Leute ich treffe, die auf Führungskarrieren keine Lust mehr haben, desto optimistischer bin ich, dass hier ein Sinneswandel eintritt. Ich finde den Begriff Selbstorganisation zwar nicht sonderlich gelungen, wenn es darum geht, viele der aufgeführten Aufgaben innerhalb von Teams aufzuteilen, aber der Weg ist der richtige.

Wenn ich in Streitgesprächen diese Thesen vertrete, stoße ich auf drei typische Gegenargumente, erstens: „Es gibt Menschen, die brauchen Führung.“ Ich stimme immer zu, denn in der Tat brauchen Menschen jemanden, der Besprechungen moderiert, der Strategien entwickelt, der bei Konflikten vermittelt, der ihnen Feedback gibt, der eine reizvolle Vision entwickelt, die sie begeistert und so weiter. Nur brauchen sie deswegen keine Führer. Zweites Argument: „Jemand muss am Ende die Verantwortung übernehmen.“ Auch das stimmt natürlich. Aber warum kann das nicht jeder selbst tun – Verantwortung übernehmen für die übernommenen Aufgaben, die getroffenen Entscheidungen, das erzielte Ergebnis? Warum brauche ich jemanden, der für mich diese Verantwortung übernimmt? Das mag bequem sein, aber notwendig ist es nicht. Und schließlich: „Unternehmen brauchen nun mal per Gesetz jemanden, der die Verantwortung übernimmt.“ Geniales Argument: Weil es in einer AG Vorstände und in einer GmbH Geschäftsführer geben muss, können wir zumindest ganz oben nicht auf Führungspositionen verzichten. Womit wir wieder am Anfang sind: Wir können auf den Begriff der „Führung“ nicht verzichten, weil es Führungskräfte gibt – per Gesetz.

<strong>Johannes Thönneßen …</strong>

Johannes Thönneßen …

… war Betriebspsychologe und Personalentwickler bei der Bayer AG und ist seit 2001 als selbstständiger Berater und Trainer tätig. Er ist Inhaber und Geschäftsführer der MWonline GmbH und betreibt das Management-Informationsportal MWonline. Kontakt: managementwissenonline.de

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