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Einführung der 42-Stunden-Woche

Fortschritt oder Fallback?

Egal ob in der Pflege, am Flughafen oder in der IT – dass es in Deutschland einen Mangel an Fachkräften gibt, ist unumstritten. Umstritten ist jedoch der Vorschlag einiger Politiker zur Lösung des Human-Resource-Problems: die Einführung der 42-Stunden-Woche. Führt die Aufstockung der wöchentlichen Arbeitszeit in eine rosigere Zukunft – oder ist sie Fallback auf dem Weg nach New Work?

„Wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen, kommen jetzt mindestens zehn Jahre, in denen es anstrengender wird als in den letzten.“ Mit diesen Worten sprach sich der ehemalige SPD-Vorsitzende und Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel jüngst gegenüber der Bild am Sonntag für die Einführung der 42-Stunden-Woche aus. Alleine ist er mit dieser Ansicht nicht. Zuvor hatte bereits Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), seine Sympathie für eine optionale Erhöhung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich bekundet. Diese sei zudem leichter umzusetzen als die Einführung der Rente mit 70, die als alternativer Vorschlag im Raum steht.

Die Idee dahinter: Indem alle etwas mehr arbeiten, wird nicht nur die sich rapide leerende Rentenkasse aufgefüllt, sondern vor allem auch der Mangel an Fachkräften gedämpft. Dieser befindet sich nämlich gerade auf einem neuen Rekordniveau: 1,7 Millionen offene Stellen zählte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im ersten Quartal – eine Zahl, die noch weiter steigen könnte, sobald die Babyboomer in Rente gehen. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, hält das für wahrscheinlich. Auch er plädiert daher für die 42-Stunden-Woche, durch die der – wie der Ökonom gegenüber der WAZ formulierte – „demografisch bedingte Verlust an Arbeitsvolumen“ ausgeglichen werden könne.

Wenig überzeugt von der drohenden Aufstockung der wöchentlichen Regelarbeitszeit zeigt sich hingegen die New-Work-Szene. Schon lange träumt man hier von verkürzten Arbeitszeiten und zeigt dabei auf Länder wie Island, Schweden oder Belgien, in denen bereits fleißig mit der Vier-Tage-Woche oder dem Sechs-Stunden-Tag experimentiert wird. Und auch in Deutschland haben bereits ein paar Unternehmen den Traum von der 30-Stunden-Woche wahr werden lassen – und das durchaus mit Erfolg.

Kürzere Arbeitszeiten können sich lohnen

So vermeldet das Digitalunternehmen Rheingans GmbH, das im Herbst 2017 den Fünf-Stunden-Tag bei vollem Gehalt und Urlaubsanspruch einführte, etwa eine gesteigerte Produktivität, einen niedrigeren Krankenstand sowie eine höhere Kreativität. Bike Citizens, ein österreichisch-deutsches Technologie-Unternehmen, das die Arbeitszeit bereits im Jahr 2014 schrittweise um ein Viertel reduzierte, berichtet von einem höheren Output und zufriedeneren Mitarbeitenden.

Dass die Zufriedenheit in Unternehmen mit kürzeren Arbeitszeiten höher ausfällt, ist wenig verwunderlich – immerhin wünschen sich die meisten Deutschen eine geringere Wochenstundenzahl. Laut einer Arbeitszeitbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin unter 9.382 Erwerbstätigen würden vollzeitbeschäftigte Männer im Schnitt gerne 3,6 Stunden pro Woche weniger arbeiten, Frauen sogar 5,2.

Daraus lässt sich schlussfolgern: Unternehmen, die diesem Wunsch entsprechen und kürzere Arbeitszeiten anbieten, gewinnen an Arbeitgeberattraktivität und haben somit bessere Karten im War for Talents. Es fällt ihnen leichter, hoch qualifizierte Talente zu halten und zu rekrutieren – mitunter aus dem Ausland. Demnach – so das Argument vieler New Worker – seien verkürzte Arbeitszeiten keineswegs nur ein „Nice-to-have“, sondern sogar das bessere Mittel, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

Diese Ansicht vertritt auch Philipp Frey. Er erforscht die Zukunft der Arbeit für den britischen Thinktank „Autonomy“ und hat in einer Studie die 30-Stunden-Woche für den öffentlichen Sektor durchgerechnet. Dabei kam er zu einem weiteren spannenden Ergebnis: Verkürzte Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich wären gar nicht mal so teuer. „Letztlich würde die Maßnahme nach meinen Berechnungen gerade einmal 11 Mrd. Euro mehr kosten, das sind nicht mal ein Prozent des Staatsbudgets“, verrät der Research Affiliate der Wirtschaftszeitschrift Capital.

Kürzere Arbeitszeiten, höhere Kosten?

Doch ob Deutschland sich einen solchen Luxus wirklich leisten kann? In den Augen von Finanzminister Christian Lindner sicher nicht. Auf Twitter schrieb der FDP-Vorsitzende am 24. Juni 2022: „Wir sind in einer fragilen Lage. Was wir jetzt brauchen, sind mehr Wachstumsimpulse, mehr Gründungen, mehr Überstunden, um unseren Wohlstand zu sichern.“ Und auch der Blick nach Schottland und Wales, die derzeit die Vier-Tage-Woche testen und teilnehmende Unternehmen mit 10 Millionen Pfund unterstützen, zeigt: Ganz günstig sind verkürzte Arbeitszeiten nicht.

Dass die finanziellen Einschätzungen bei diesem Thema so unterschiedlich ausfallen, hat einen einfachen Grund: Kürzere Arbeitszeiten rechnen sich für ein Unternehmen nur dann, wenn derselbe Workload in weniger Zeit geschafft werden kann. In der Wissensarbeit, in der Mitarbeitende ohnehin nicht acht Stunden am Stück konzentriert arbeiten können, mag das also ein guter Deal sein – in der Produktion oder dem Dienstleistungssektor ist es hingegen meistens keiner. Denn ein Mitarbeitender aus der Fertigung oder eine Pflegekraft kann ihr an acht Stunden angelehntes Arbeitspensum nicht in sechs schaffen.

Zu diesem Schluss ist auch die Führungsebene des Svartedalen-Seniorenheims in Göteborg gekommen, das den Sechs-Stunden-Tag zwei Jahre lang getestet hat. Das Ergebnis: Zwar fiel die Arbeitslast für die einzelne Pflegekraft geringer aus, jedoch mussten 14 neue Mitarbeitende eingestellt werden, um den Workload zu bewältigen. Nach Angaben der Wirtschaftsagentur Bloomberg fielen dadurch zusätzliche Kosten in Höhe von zwölf Millionen Kronen – das sind umgerechnet 1,26 Millionen Euro – an. Heute wird in dem Seniorenheim daher wieder acht Stunden gearbeitet.

Bessere Verteilung könnte die Lösung sein

Dabei ließen sich die Kosten eigentlich auch auf andere Weise decken – wenn größer gedacht und innergesellschaftliche Verteilmechanismen in den Blick genommen werden würden. Davon ist zumindest der Soziologe Harald Welzer überzeugt. Dank Automatisierung und Technologisierung werde heute nämlich gesamtökonomisch betrachtet deutlich mehr Output generiert als noch vor 50 Jahren. Doch: „Was macht man mit den Produktivitätszuwächsen, die es ohne Zweifel gibt?“, fragt Welzer in einem Interview mit dem Philosophie Magazin. Die Antwort liefert er gleich mit: „Man übersetzt sie in die Generierung von weiterem Mehrwert und nicht in kürzere Arbeitszeiten“ – oder eine vernünftigere Entlohnung, die laut dem Sozialpsychologen zur Lösung dazugehört.

Zu demselben Schluss kommt auch der Deutsche Gewerkschaftsbund. Statt der 42-Stunden-Woche brauche es eine flächendeckende tarifliche Entlohnung und Sozialversicherungspflicht ab dem ersten verdienten Euro ohne Ausnahmen bei Minijobs, Saisonarbeit, Selbstständigkeit und den Bezügen von Mandatsträgern, erklärt DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Denn je höher die Löhne, desto höher die Sozialversicherungsbeiträge, die dann wiederum die Finanzierung sicherten – und natürlich: desto besser die Aussicht auf Fachkräfte.

Ob die Politik die längeren Arbeitszeiten trotz vehementem Widerspruch seitens der Gewerkschaften und der New-Work-Verfechter letztlich durchsetzen wird, bleibt also abzuwarten. Als klarer Rückschritt können sie allerdings nicht bezeichnet werden. Den gab es nämlich genau genommen schon 1994, als das neue Arbeitszeitgesetz verabschiedet wurde – und aus der maximalen Wochenstundenzahl von 40 wieder eine 48 machte.

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