Gudrun Töpfer in Speakers Corner
Gudrun Töpfer in Speakers Corner

„Hört auf, an den One Best Way zu glauben!“

Dass ständig neue Ansätze und Konzepte durchs Management-Dorf getrieben werden, liegt nicht nur an unserer Sensationsgier, glaubt Gudrun Töpfer. Sondern auch an einer fatalen Illusion: Wir sind überzeugt, dass wir – wenn wir nur hartnäckig genug nach ihr suchen – die eine ideale Formel für alle Fälle irgendwann schon finden werden. Doch das ist nicht nur naiv, sondern gefährlich. Denn es hält uns davon ab, die wirklichen Herausforderungen zu meistern. ​

Sie ist eine große Sehnsucht der Menschheit. Selbst seriöse Wissenschaftler haben sich immer wieder mit ihr beschäftigt: die eine Theorie, die alle physikalischen Phänomene unserer Welt beschreiben und sinnvoll verknüpfen soll, die Theorie von allem, neudeutsch: The Theory of Everything (ToE). Schon in der Antike gab es Versuche, die Vielfalt der physikalischen Wirklichkeit auf ein einziges Prinzip zurückzuführen. Bisher allerdings hat es – trotz Teilchenbeschleuniger und Quantenphysik – noch niemand geschafft, die sogenannte Weltformel zu finden.

Das hält uns Menschen freilich nicht davon ab, ähnliche Universallösungen auch in anderen Bereichen zu suchen. Die Sehnsucht nach allumfassenden, einfachen Antworten ist einfach zu groß, auch im Bereich der Wirtschaft. So gibt es – quasi als Äquivalent zur Theory of Everything – im tayloristischen Arbeitsprinzip die Begrifflichkeit des „One Best Way“. Sie beschreibt den Gedanken, dass es für jede Aufgabe eine perfekte Art gibt, wie man sie erfolgreich erledigen kann. Darin kommt einmal mehr das Streben des Menschen nach Perfektion und nach einer darin liegenden Eindeutigkeit zum Ausdruck. Das Streben nach dem „One Best Way“ hat manchmal tatsächlich zu Höchstleistungen, Geschwindigkeit und Qualität geführt – und tut dies immer noch. Genauso oft aber führt es zu Unglück, zum Gefühl von Unzulänglichkeit und Frust. Dies hat sich schon in unserer Sprache niedergeschlagen. So sind die heiß begehrten „Best Practices“, eine sprachliche Variante des One Best Way, vielerorts in „Good Practices“ umgetauft worden, wohl wissend, dass das, was für den einen gut ist, für den anderen unpassend und sogar schädlich sein kann.

Trotzdem hält sich im Kontext von Wirtschaft und Arbeitswelt die Sehnsucht nach dem One Best Way hartnäckig. Und zeigt sich vor allem darin, dass ständig ein vermeintlich neues Konzept, ein neuer Ansatz als die Lösung für nahezu sämtliche Probleme gehypt wird. Ganz so, als sei damit – endlich – die Formel für alles gefunden worden. Die Vielzahl „neuer“ Konzepte, Methoden und Ideen in Organisationsentwicklung, Führungstheorie, Beratung oder Unternehmenspraxis ist überwältigend. Alle klingen in sich sinnvoll, plausibel und oft wahrhaftig erstrebenswert. Doch beim genaueren Hinschauen wird schnell klar: So richtig neu ist’s oft nicht – auch oder gerade, wenn ein Konzept fancy verkleidet und glitzernd garniert daherkommt.

Zum Beispiel New Work: Die Sichtweise, dass man Menschen mit Respekt, Achtung und Wertschätzung begegnen möge, ihnen Freiheiten einräumen und sie eigenverantwortlich an relevanten Themen arbeiten lassen sollte, ist schon Jahrzehnte alt. Ein entsprechendes Arbeitsumfeld hat Douglas McGregor bereits 1960 beschrieben. Agile Leadership unterscheidet sich kaum vom 1969 von Paul Hersey und Ken Blanchard veröffentlichten Konzept des situativen Führens. Remote Work wiederum hieß früher Telearbeit. Erste Veröffentlichungen dazu gab es schon ab 1980. Sogar Coworking Spaces waren – besonders im ländlichen Raum – unter dem Titel „Nachbarschaftsbüros“ schon einmal da. Auch die allgemeinen Wirkprinzipien von Digital Leadership vereinen vor allem Bekanntes: Es geht um Transparenz, Partizipation, Individualisierung, Geschwindigkeit (wann in den vergangenen 30 Jahren ging es eigentlich nicht darum – und wohin hat es geführt?) und viele Aspekte, die weniger mit Führung und mehr mit Organisations- und Strategieentwicklung zu tun haben. Wirklich neu ist höchstens die Fülle und allseitige Verfügbarkeit von Daten, für die wir – als Gesellschaft – einen sinnvollen Umgang aushandeln müssen. Ein eigener Führungsstil wird daraus nicht – sofern sich aber doch einer ableiten ließe, hätte er viele Gemeinsamkeiten mit der transformationalen Führung, die ab den 1980er-Jahren etwa von James MacGregor Burns und Bernard M. Bass diskutiert wurde ...

Die allgegenwärtige Aufhübschung alter Ansätze wird natürlich in schöner Regelmäßigkeit durchaus erkannt. Gern wird sie dann mit der Formulierung vom „neuen Wein in alten Schläuchen“ angeprangert – mit der sich wiederum auch keine Innovationspreise einheimsen lassen dürften. Was aber soll diese ewige Durchnudelei der immer gleichen Konzepte? Wieso müssen immer neue Formulierungen bemüht werden, statt offen und ehrlich die etablierten neu zu beleben? Warum bedienen wir uns so ungern der alten Konzepte und Erkenntnisse? Dafür mag es verschiedene Erklärungen geben. Natürlich sind einige Aspekte der alten Konzepte inzwischen tatsächlich unmodern geworden. Zu genau wissen wir inzwischen, was man Menschen antut, wenn man sie unter Druck zu Diamanten pressen möchte. Zudem steht es jeder Generation zu, ihre eigene Situation so speziell, besonders und einzigartig zu finden, dass die Lösung in der Vergangenheit gar nicht zu finden sein kann. Auch sticht die Übertragung der alten Erkenntnisse nicht immer ins Auge, etwa weil sich die technische Ausstattung eines heutigen Homeoffices eklatant von der eines „Telearbeitsplatzes“ von 1985 unterscheidet, auch wenn die Grundüberlegungen über soziale Abkopplung oder selbst organisierte Aufgabenbewältigung die gleichen sind. Eine andere Erklärung aber liegt meines Erachtens im eben beschriebenen Phänomen des Run auf den One Best Way.

Natürlich ist längst klar, dass jeder Ansatz mit einem Set an Nachteilen und Unzulänglichkeiten daherkommt. Was liegt also näher, als zu denken, dass man weitersuchen muss, bis man sie endlich gefunden hat – die eine Lösung, die nun wirklich keinen Pferdefuß mehr hat. Weil – anders als früher – jetzt an alles gedacht wurde. Schon deswegen müssen die alten Ansätze als neu deklariert werden.

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Was hilft uns aber nun das Wissen um dieses Phänomen? Ich denke, damit wird es etwas leichter, sich nicht von Trends „jagen“ zu lassen. Das soll nicht heißen, die Konzepte ad acta zu legen, weil sie ja nicht „neu“ sind. Nicht neu, das heißt ja keineswegs schlecht. Aber weil es viele Ansätze schon länger gibt, lohnt es, sich anzuschauen, was dazu bereits an Erfahrungsberichten und auch Erkenntnissen über Grenzen und Einschränkungen vorliegt. Das ist mühsam, aber kann sich schnell lohnen.

Auch möchte ich dafür werben, sich um die Ausbildung von Metakompetenzen zu bemühen, um etwas Wichtigeres tun zu können, als einem „neuen“ One Best Way auf den Leim zu gehen, nämlich: aus den ohnehin rappelvollen Werkzeugkisten das jeweils Passende auswählen zu können. Zur passenden Wahl – und auch passenden Anwendung – ist beispielsweise die Beschäftigung mit dem Systemstatus nötig. Das bedeutet zunächst einmal: hinschauen und sehen, was ist. Im Arbeitskontext kann sich dies auf viele Bereiche erstrecken: die gelebte Unternehmenskultur, anstehende Aufgaben, Rahmenbedingungen, Zwecke und Ziele, Wünsche von Individuum, Team und Organisation. Im Kern geht es hier um analytische Fähigkeiten, eingebaut in ein Setting, das es uns schwer machen sollte, uns in die eigene Tasche zu lügen.

Dass eine getroffene Auswahl – je nach Situation und Lebensverlauf einer Organisation, ihrer Ziele und ihrer Mitarbeitenden – irgendwann neu bewertet, geprüft und entschieden werden muss, gehört ebenfalls zur gesunden Abkehr vom Glauben an den One Best Way. Viel hilfreicher ist es in unserer volatilen Wirtschaft, Vorgehensweisen bewusst mit dem Etikett der Vorläufigkeit zu versehen. Das bedeutet auch, als Führungskraft mutig zu sagen: „Ich weiß es (noch) nicht. Ich denke im Moment so und so.“ Idealerweise sollten solche Aussagen allerdings auch auf einen Resonanzraum treffen, der sie nicht als Schwäche auslegt. Wer dem One Best Way nicht weiter hinterherhechten will, braucht außerdem die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten, also notfalls Dinge nebeneinander stehen zu lassen, die sich widersprechen. Oder auszuhalten, dass es statt des einen One Best Way nun mal verschiedene Good Ways gibt, die je nach Kontext passen.

Es scheint eine allgemeine Anforderung des Lebens zu sein: Es passt selten perfekt. Man muss hinschauen, prüfen, abwägen, ausprobieren, nachsteuern – und obendrein über das alles sinnvoll kommunizieren. Da ist es doch beruhigend, dass gar nicht alles komplett neu ist, sondern dass über vieles schon nachgedacht wurde, vieles schon erprobt worden ist. Freuen wir uns also darüber, dass wir auf den Schultern von Riesen stehen und über so viele Ansätze, Konzepte und Werkzeuge verfügen können. Wir müssen uns nur darum bemühen, das jeweils Passende auszuwählen. Die Weltformel brauchen wir nicht.

<strong>Dr. Gudrun Töpfer ...</strong>

Dr. Gudrun Töpfer ...

... ist Geschäftsführerin und Gesellschafterin der Unternehmensberatung Wechselwerk. Sie hat über organisationale Ambidextrie promoviert und im Juli 2021 gemeinsam mit Christoph Frey das Buch „Ambidextrie in Organisationen“ (Schäffer-Poeschel) veröffentlicht. Töpfers Schwerpunkt ist die Organisationsentwicklung und alle damit zusammenhängenden Themen. 2020 gründete sie den Thinktank Ambidextrie, der allen Interessierten den Zugang zu und die Arbeit mit Ambidextrie erleichtern soll. Kontakt: www.wechselwerk.com

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