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Arbeitszeitreduktion in Island

Großexperiment mit Vorbildcharakter?

Durchweg positiv – so lautet die Bilanz nach zwei groß angelegten Versuchen mit reduzierten Arbeitszeiten in Island. Jetzt fragen sich viele, ob dies dafür spricht, auch hierzulande die Arbeitszeiten zu verringern.

Blökende Schafe, klare Luft, weite Landschaften ... Wer als Tourist nach Island kommt, kann es sich kaum vorstellen, aber die Isländer sind in den vergangenen Jahren nicht so tiefenentspannt gewesen, wie man angesichts ihrer urwüchsigen Lebensumgebung meinen könnte. Sie haben nämlich im Vergleich zu anderen Ländern extrem lange Arbeitszeiten. Im Schnitt ist auf der Vulkaninsel laut den Statistiken von Eurostat im Jahr 2019 in Vollzeitjobs durchschnittlich 44 Stunden pro Woche malocht worden. In Deutschland sind es dagegen nur 41 Stunden bei den Vollzeitkräften gewesen und unter Einschluss der Teilzeitkräfte 34,8 Stunden, während Island unter Einschluss der Teilzeitkräfte immer noch auf 39,2 Stunden kam. Entsprechend häufig hörte man Isländer in den vergangenen Jahren klagen, sie hätten das Gefühl, zu wenig Zeit für sich und ihre Familien zu haben. 

So jedenfalls steht es in einem Bericht (autonomy.work/wp-content/uploads/2021/06/ICELAND_4DW.pdf), der in den vergangenen Wochen auch außerhalb des Landes Furore gemacht und die Debatten über den Nutzen verkürzter Arbeitszeiten auch in Deutschland einmal mehr angeheizt hat. Der Report der isländischen Non-Profit-Organisation Alda (Association for Sustainability and Democracy) und des britischen Think Tanks Autonomy fasst die Ergebnisse zweier Großexperimente zusammen, mit denen die isländische Regierung, die Verwaltung der Hauptstadt Reykjavik und der Gewerkschaftsbund BSRB von 2015 an rund fünf Jahre lang getestet haben, welche Auswirkungen verkürzte Arbeitszeiten auf das Leben der Menschen, aber auch die Arbeitsproduktivität haben. Letztlich nahmen etwa 2.900 Mitarbeitende an den Versuchen teil, 2.500 beim ersten, 400 beim zweiten – über ein Prozent der isländischen Bevölkerung, darunter ebenso Behördenmitarbeitende wie Pflegekräfte, Mitarbeitende von Kindergärten, Polizisten und Polizistinnen, Menschen in Normal- oder atypischen Arbeitsverhältnissen. 

Positive Effekte auf die Arbeitsprozesse

Diskutiert wird das Ganze nun unter dem Schlagwort Vier-Tage-Woche. Allerdings war es nicht so, dass den beteiligten Isländern eine Vier-Tage-Woche verordnet worden wäre. Sie konnten vielmehr selbst bestimmen, wie sie von einer im Schnitt meist 40-Stunden-Woche auf eine 35- oder 36-Stunden-Woche umsteigen wollten – ohne Lohnkürzung.

Die Experimente wurden durch mehrere Studien begleitet. In der Zusammenschau kommt der aktuelle Bericht nun zu sehr positiven Ergebnissen. So soll sich das Wohlbefinden am Arbeitsplatz verbessert haben, das Stressniveau (im Vergleich zu Kontrollgruppen) gesunken sein, die Work-Life-Balance ausgeglichener geworden sein. Die Experimente hatten auch überraschend positive Auswirkungen auf die Arbeitsprozesse in den Unternehmen: Hier stellte man beispielsweise fest, dass sich Kollegen verstärkt unterstützten und dass es weniger Verwirrung über Rollen am Arbeitsplatz gab. Offenbar koordinierte man sich besser als zuvor – ein Ergebnis, das sich mit älteren Erhebungen zu den betrieblichen Auswirkungen von Arbeitszeitverkürzungen deckt. 

Was dagegen weitgehend ausblieb, waren Effekte, die Skeptiker von Arbeitszeitverkürzungen häufig ins Feld führen. Etwa, dass Arbeitnehmende die Zeit, die ihnen fehle, durch formelle und informelle Überstunden kompensierten. Der Analyse zufolge war dies aufgrund der Neuorganisation von Aufgaben und der Entwicklung neuer fokussierterer Arbeitsstrategien selten der Fall. Offenbar gaben die Streichung unnötiger Aufgaben, neue Schichtvereinbarungen und effizienter durchgeführte Meetings ausreichend Kapazitäten frei. In den Fällen, in denen es trotzdem zu einem leichten Anstieg von Überstunden kam, blieb die Arbeitsstundenzahl laut der Analyse netto dennoch unter dem Niveau der Zeit vor dem Experiment. 

Dass die Produktivität in der Mehrzahl der beteiligten Organisationen gleich blieb oder sich sogar verbesserte, bestätigte eine wichtige Ausgangsthese der Versuche. Nämlich die, dass ausufernde Arbeitszeiten auch den Unternehmen und der Volkswirtschaft schaden – weil ausgepumpte Mitarbeitende weniger produktiv sind als erholte. In der Tat scheinen statistische Daten diesen Zusammenhang zu untermauern. Demnach bewegt sich die Stundenproduktivität in Ländern mit hohen Arbeitszeiten, etwa im Süden Europas, auf einem auffallend niedrigen Niveau, während sie in Ländern mit geringeren Arbeitszeiten deutlich höher ist. Vermutet wird, dass sich beides bedingt: Geringere Arbeitszeiten machen produktiver. Und Länder mit höherer Stundenproduktivität haben mehr Spielraum beim Umgang mit den Arbeitszeiten. Island verzeichnete in den vergangenen Jahren übrigens eine geringere Produktivität als etwa seine nordischen Nachbarländer mit geringerer Arbeitsstundenzahl. 

Weniger Arbeitszeit gleich Fachkräftemangel?

Die Sache ist also komplex. Hinzu kommt: Schon dadurch, dass in der Studie kaum Produktionsmitarbeitende einbezogen wurden, ist sie aus Sicht von Friedhelm Nachreiner, Arbeitszeitforscher von der Gesellschaft für Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologische Forschung e.V., nicht repräsentativ, „nicht einmal für Island“. Auch aus anderen Gründen wird aktuell die Übertragbarkeit der Studienergebnisse heftig diskutiert. So argumentieren Gegner von Arbeitszeitkürzungen zum Beispiel, dass die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland anders seien als in Island. Die Erwerbsquote ist geringer, das Durchschnittsalter der Beschäftigten höher, die Arbeitszeiten moderater. Schon der demografische Wandel und Fachkräftemangel verbiete es daher, Arbeitszeiten zu verkürzen. Beispiel: Pflegebranche. Werde dort weniger gearbeitet, bliebe Arbeit liegen, die Überlastung der Arbeitstätigen steige noch mehr. Dem allerdings hält der Soziologe Harald Welzer in einem Interview mit dem Philosophiemagazin entgegen, dass es von der Entlohnung und gesellschaftlichen Bewertung solcher Jobs abhängt, ob sich genug Menschen finden, die sie ausführen wollen. Sprich: Mit vernünftiger Entlohnung gibt es auch keinen Fachkräftemangel. 

Gegner des Modells Arbeitszeitverkürzung verweisen zudem darauf, dass es in Deutschland schon umfangreiche Teilzeitoptionen gebe. Dem wiederum halten Befürworter entgegen, dass es sich längst nicht alle Arbeitnehmenden leisten können, diese Optionen in Anspruch zu nehmen, da sie mit Lohneinbußen verbunden seien. 

Streit um Produktivitätspotenziale

Kritisiert wird auch, dass kürzere Arbeitszeiten Unternehmen zu viel kosten könnten, weil es nicht in jedem Job möglich sei, dieselbe Arbeit in kürzerer Zeit zu erledigen: „Bei der Kassiererin im Supermarkt oder dem Produktionsmitarbeiter sehe ich nicht, wie diese produktiver werden könnten, wenn sie statt fünf vier Tage arbeiten,“ so Hilmar Schneider, Geschäftsführer des von der Deutschen Post Stiftung geförderten Think Tanks Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA), im Podcast „Zurück zum Thema“ bei detektor.fm. Arbeitszeitforscher Friedhelm Nachreiner kann solchen Argumenten wenig abgewinnen: „Es ist völlig klar, dass etwa Fehlerquoten auch in solchen Jobs von der jeweiligen Belastung nach deren Art, Intensität und Dauer abhängen – und lange Arbeitszeiten weder unter Produktivitäts- noch unter Belastungsgesichtspunkten aus arbeitswissenschaftlicher Sicht empfehlenswert sind“, so Nachreiner. 

Eine Gefahr, die allerdings auch Befürworter des Modells sehen, ist die, dass Menschen auf längere Sicht oder unter schlechten Arbeitsbedingungen (u.a. als Folge von Führungsfehlern oder normativen Regelungen zur Leistungserbringung) eben doch in die Situation geraten, in kürzerer Zeit mehr leisten zu sollen. „Die Rechnung: Weniger Arbeitszeit macht automatisch weniger Belastung, geht nicht auf, weil auch die Intensität der Belastung – in ihrem Zeitverlauf mit den Ruhezeiten und Pausen – berücksichtigt und gestaltet werden muss“, erklärt Nachreiner. Tatsächlich müssten immer zwei Faktoren im Zusammenhang mit der Wirkung von Arbeitszeitregelungen betrachtet werden: „Die Belastung und deren Folgewirkungen. Einerseits Ermüdung oder andere Beeinträchtigungen. Und andererseits die soziale Belastung, die dadurch entsteht, dass Arbeit Zeit blockiert, die Menschen an anderer Stelle, etwa im Rahmen der sozialen Teilnahme, brauchen.“ 

Nicht alle profitieren gleichermaßen

Ob also effizienteres Arbeiten, um Arbeitszeit zu sparen, gestresster oder stressfreier, ob es produktiver oder unproduktiver macht, ist pauschal schwer zu sagen. Darauf lässt auch eine Untersuchung schließen, die ein Psychologen-Team der Universität Erfurt um Dr. Christine Johannes 2020 veröffentlicht hat. Die Forschenden haben die Implikationen kürzerer Arbeitszeiten im Jenaer Softwarebetrieb JustOn untersucht, in dem bei einer 36-Stunden-Woche jeden zweiten Freitag bei voller Bezahlung nicht gearbeitet wird. Auch sie kamen zu dem Schluss, dass es von der Situation im Einzelnen abhängt, wie gut das Modell funktioniert. In der Island-Studie mussten insbesondere Führungskräfte mit einem höheren Workload klarkommen, ihre reduzierten Stunden mehrfach verschieben. Bei JustOn war das ähnlich und betraf auch Mitarbeitende mit Kundenkontakt. Auch diese mussten zuweilen am arbeitsfreien Freitag arbeiten. 

Interessant auch: In der Jenaer Firma profitierten jene weniger von den reduzierten Arbeitszeiten, denen es auch vorher schon nicht gut gelungen war, Arbeit und Privatleben zu trennen. Damit zeige sich, so die Wissenschaftler, dass die jeweiligen Rahmenbedingungen der Arbeit wie auch persönliche Einstellungen einen Einfluss darauf haben können, ob Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von reduzierten Arbeitszeiten profitieren. Unterm Strich war die Zufriedenheit mit dem Modell aber bei JustOn so hoch, dass man nach der Probephase dabei blieb. Ähnliches gilt übrigens auch für den isländischen Großversuch: Nachdem die Gewerkschaften und Verbände dort durch die Studienergebnisse Rückenwind für ihre Forderungen nach kürzeren Arbeitszeiten bekommen hatten, haben nun 86 Prozent der isländischen Berufstätigen das Recht, weniger zu arbeiten – oder arbeiten tatsächlich weniger. 

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