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Enquête-Bericht liegt vor: Psychogruppen gefährden Staat und Gesellschaft nicht

150 Gramm schwer, 3,5 Zentimeter dick, 602 Seiten stark und rund zwei Millionen Mark teuer: Der Abschlußbericht der Enquête-Kommission 'Sogenannte Sekten und Psychogruppen' liegt vor. Zwölf Bundestagsabgeordnete und ebenso viele Experten saßen zwei Jahre über dem Thema, berieten und stritten sich. 49 Sitzungen, zahlreiche Anhörungen, eine Studienreise in die USA und Auswertungen von Untersuchungen führten schließlich zu dem Ergebnis: Von sogenannten Sekten und Psychogruppen geht derzeit keine Gefahr für Staat und Gesellschaft aus. Eine Änderung von Artikel 4 Grundgesetz (Glaubens- und Gewissensfreiheit) wurde daher einstimmig abgelehnt.
Eingesetzt wurde die Enquête-Kommission 1996 vom Deutschen Bundestag. Der Grund: Besorgte Bürger hatten sich wegen sogenannter Sekten und Psychogruppen, vor allem aber wegen der Aktivitäten von Scientology, an den Petitionsausschuß gewandt. Aufgabe der Abgeordneten und Sachverständigen war es nun, Probleme und Konflikte im Zusammenhang mit diesen Gruppierungen zu analysieren.

Ein zentrales Ergebnis der Enquête-Kommission betrifft daher auch den Psychomarkt, mit dem Angebote von Lebenshilfe und Persönlichkeitsentwicklung außerhalb der fachlichen Psychologie und des Gesundheitswesens gemeint sind, ergo: auch sämtliche Persönlichkeits- und Verhaltenstrainings. Zwar wird der Markt mit einer unüberschaubaren Zahl von Gruppierungen und Anbietern von der Kommission als boomend eingeschätzt, doch könne nur ein kleiner Teil dieser Gruppierungen als 'konfliktträchtig' angesehen werden. Ortrun Schätzle, CDU-Abgeordnete und Vorsitzende der Kommission, erklärte am 19. Juni 1998 bei der Beratung im Bundestag: 'Sofern es Konflikte gibt, bewegen sie sich zumeist im sozialen Umfeld des einzelnen.' Ein zu verallgemeinerndes Muster sei nicht erkennbar, auch eine 'typische Biographie' wiesen Betroffene nicht auf. Zudem belegt eine von der Kommission in Auftrag gegebene Studie, daß Menschen, die sich zu solchen Gruppierungen hingezogen fühlen, in der Regel keine Opfer sind. Vielmehr suchten sie bewußt, ihre Wünsche und Erwartungen mit passenden Angeboten zu befriedigen.

Das, was sich den Ergebnissen zufolge wie eine Entwarnung liest, ist nach Meinung der Enquêteler kein Grund zum Entspannen. Zwanzig Handlungsempfehlungen befinden sich im Anhang und sollen der nächsten Bundesregierung den Weg weisen. Darunter z.B. die Einrichtung einer unabhängigen und staatsfernen Bundesstiftung, die durch Information und Beratung zur Aufklärung auf dem Sekten-, Psycho- und Esoterikmarkt beitragen soll. Neben der Stiftung soll zudem eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden, die es erlaubt, private Beratungsstellen staatlich zu fördern. Gisela Schröter, SPD-Abgeordnete, erklärte dazu: 'Viele Hilfesuchenden wenden sich ganz bewußt nicht an kirchliche oder staatliche Stellen.'

Und auch der vom Bundesrat vorliegende Gesetzesentwurf zur Lebensbewältigungshilfe ist wieder im Rennen (vgl. TA 7/97 und TA 1/98). Der bereits im Vorfeld von betroffenen Seminaranbietern, von Bündnis 90/Die Grünen und der Bundesregierung kritisierte Entwurf bedürfe zwar, so CDU-Abgeordneter Ronald Pofalla, einer Weiterentwicklung, offenbare aber bestehende Lücken, die gesetzgeberisch geschlossen werden müßten.
Darüber hinaus waren sich die Abgeordneten von CDU/CSU, FDP und SPD einig, daß die Beobachtung der Scientology-Organisation durch die Verfassungsschutzbehörden fortgesetzt werden sollte. Nach Ansicht der Enquête-Kommission komme Scientology eine Sonderstellung zu, da sie keine religiöse Gemeinschaft, sondern eine politisch-extremistische Organisation sei. Die Bündnisgrünen halten eine derartige Überwachung für nicht gerechtfertigt. Vielmehr seien Strafrecht und Aufklärung die geeigneten Waffen im Kampf gegen Scientology.

Die Bündnisgrünen waren jedoch nicht nur hinsichtlich der Maßnahmen gegen Scientology anderer Meinung. Den Schlußfolgerungen, die die Union, SPD und FDP aus den Befragungen von Experten, Aussteigern und Betroffenen gezogen haben, erteilte Grünen-Obfrau Angelika Köster-Lößack eine klare Absage. Zusammen mit dem Sachverständigen Prof. Dr. Hubert Seiwert legte sie daher ein Sondervotum vor. Köster-Loßack: 'Die Kommissionsmehrheit fährt hier schwere Geschütze auf. Durch die Fülle der Handlungsempfehlungen wird der Eindruck erweckt, daß Gefahr im Verzuge sei.' Es gebe jedoch keine Erkenntnisse, daß in diesem Bereich in Deutschland Gesetzesverletzungen oder moralisch unvertretbares Verhalten gehäuft auftreten würden. Köster-Loßack: 'Aus den Ergebnissen unserer Arbeit läßt sich gesetzgeberischer Aktionismus nicht begründen.' So plädieren die Bündnisgrünen anstatt des Lebensbewätigungsgesetzes für Qualitätsstandards analog zur Ärzteschaft, zu Heilpraktikern und Psychologen. Es gebe keinen Hinweis, daß mißbräuchlich angewandte manipulative Techniken für diesen Bereich charakteristisch seien. Darüber hinaus fordern die Bündnisgrünen in ihrem Sondervotum, daß zwischen neuen religiösen Bewegungen und Psychogruppen schärfer unterschieden werden müßte.

Der Begriff 'neue religiöse und ideologische Gemeinschaften' ist im übrigen auch eine Errungenschaft der Enquête-Kommission. Der Bericht enthält neben den Maßnahmenkatalogen und Sondervoten nämlich auch viel Grundsätzliches: Studienergebnisse werden aufgelistet, Forschungslücken aufgezeigt und Begriffsdefinitionen vorgenommen. So kommen die Abgeordneten zu dem Ergebnis, den Begriff der Sekte wegen seiner 'stigmatisierenden' Wirkung nicht mehr zu verwenden und ihn stattdessen durch die neue Bezeichnung zu ersetzen. Wohl nicht zuletzt auch wegen dieser Definitionsversuche zählt der Bericht derart viele Seiten. Wie auch sonst hätte man das eigens dafür eingerichtete Sekretariat beschäftigen können...
Autor(en): (nbu)
Quelle: Training aktuell 07/98, Juli 1998
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