Arschbombe und Räuberleiter

Der schwedische Sonderweg bei Corona

Über Schweden wird in Deutschland zum Topic Corona heiß diskutiert: Die einen loben die wenig restriktiven Einschränkungen der Freiheit, die anderen führen die Todeszahlen an und verteufeln den nordischen Weg. Glücksexpertin Maike van den Boom lebt in Schweden und berichtet, wie sie die Situation wahrnimmt.

Maike, du lebst als Deutsche in Schweden. Wie erlebst du dort die Corona-Krise?

Maike van den Boom: Für mich persönlich sind die Einschnitte im täglichen Leben nicht gravierend. Gut, da ich mein Geld als Rednerin in Deutschland verdiene, haben sich meine Einnahmen drastisch reduziert. Ansonsten geht meine Tochter jeden Tag zur Schule, und ich bin als Selbstständige Home-Office eh gewöhnt. Im Café am Wasser arbeite ich immer noch gerne, bei „Enrico“ gegenüber trinke ich gelegentlich ein Glas Wein, und Einkaufsbummel sind hier auch noch möglich. Trotzdem: Die Straßen sind leerer, im Restaurant kommt nicht wirklich Stimmung auf bei nur zwei besetzten Tischen, und in der Shoppingmall herumzutingeln, wenn gefühlt 20 Prozent der Läden schon pleite sind, ist frustrierend.

Schweden beschreitet mit dem Kampf gegen Corona ja einen Sonderweg, auf den hierzulande teils neidisch, teils kritisch geguckt wird …

Der Unterschied zu anderen Ländern ist, dass der Staat seine Bürger in die Lage versetzt, durch ihr eigenes Verhalten den Verlauf der Krise zu beeinflussen. Anstatt mit Regeln zu arbeiten, ermahnen die schwedischen Experten das schwedische Volk, sich an die Empfehlungen zu halten, die ja auch in Deutschland gelten: wie etwa Händewaschen, Abstand halten, bei kleinsten Anzeichen das Haus nicht mehr zu verlassen ... Das waren die Regeln von Anfang an, und die bleiben auf unbegrenzte Zeit bestehen. Das schafft eine gewisse Normalität und Klarheit trotz abnormaler Umstände. Es herrscht darüber hinaus ein sehr hohes Vertrauensniveau in der Gesellschaft, von der auch die Regierung ein Teil ist: Jeder erwartet vom anderen, dass der sich zum Besten aller verhalten wird. So wird die tägliche Pressekonferenz der schwedischen Behörden durch diese zwei Sätze geprägt: „Seid selbstkritisch! Seid ein Teil der Lösung!“

Funktioniert dieser Weg aus deiner Sicht?

Wie alle Länder will Schweden dafür sorgen, dass die Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht überschritten werden. Das ist bisher gut gelungen. Man hat versucht, die Menschen in den Pflegeheimen zu schützen. Dies ist, wie in vielen anderen Ländern, nicht gelungen und macht uns alle sehr betroffen. Über die Hälfte der Toten in Schweden starben in Pflegeheimen und bei häuslicher Pflege. Mit dem disziplinierten Verhalten der Menschen im täglichen Leben hat dies jedoch wenig zu tun.

In Deutschland wird argumentiert, dass der Swedish Way hier nicht funktionieren würde, unter anderem, weil die Bevölkerungsdichte nicht vergleichbar sei. Ist das aus deiner Sicht tatsächlich der Grund?

Die Bevölkerungsdichte ist nur ein Faktor von vielen, die sich gegenseitig bedingen. Ich denke, die Herausforderung für andere Länder wäre es, Menschen zuzutrauen, sich verantwortungsvoll und vernünftig zu benehmen. Und dann loszulassen, nicht zu kontrollieren und zu sanktionieren. Immer wieder nur zu empfehlen. In Schweden tut man das, und es macht die Menschen hier sehr stolz, loyal und positiv gestimmt. Und das ist eine normale menschliche Reaktion, denn wann immer uns vertraut wird, wachsen wir, übernehmen Verantwortung und wollen uns des Vertrauens auch würdig erweisen. Vertrauen schenkt Menschen positive Energie. Zu strenge und nicht nachvollziehbare Regeln reduzieren das Engagement und bergen die Gefahr des Widerstandes in sich.

Wäre aus deiner Sicht der schwedische Weg auch für Deutschland denkbar gewesen?

Wir werden nie wissen, ob the Swedish Way auch in Deutschland funktionieren würde, weil den Menschen in Deutschland schon vorher vorsichtshalber die Souveränität entzogen wurde. All diese erwachsenen und heranwachsenden Bürger hatten also gar keine Chance, sich zu beweisen. Das ist traurig. Dennoch ist es vielleicht auch sinnvoll, das nicht gerade während der Krise auszuprobieren. Ein solches Verhalten muss über Jahre wachsen.

Was sind aus Deiner Sicht die Besonderheiten, die den Schweden einen weniger restriktiven Umgang mit der eigenen Freiheit ermöglichen?

Es besteht ein tief verwurzelter kultureller Unterschied in der Mentalität der Schweden und der Deutschen. „Frihet under ansvar“, Freiheit unter Verantwortung, wird hier bereits in die Kinderseelen reingeschrieben. Es fehlt in Schweden die Autorität einer Person, die knallhart bestimmt. Ein Beispiel, das das verdeutlicht: Wir hatten vergangenen Herbst Besuch einer Freundin meiner Tochter Elisa aus der 8. Klasse eines Bonner Gymnasiums. Da wir hier keine Ferien hatten, hatte sie Elisa einen Tag in ihre schwedische Grundschule (1. bis 10. Klasse) begleitet. Ihr Urteil: „Ej voll doof, warum habt ihr denn einen Lehrer, wenn der euch nicht erzählt, was ihr machen sollt?“ Und das ist der Unterschied. Sowohl in der Schule als auch im späteren Leben lernst du in Schweden, früh Verantwortung zu übernehmen. Das ist der Kern des nordischen Bildungssystems, nicht pure Leistung erbringen zu müssen, sondern selber einen Beitrag leisten zu wollen. Über „Empowerment“ lernst du, dass du nicht hilflos bist, sondern „ein Teil der Lösung“.

Was ist deiner Meinung nach zentral, um Selbstverantwortung leben zu können?

Kurz gesprochen: Arschbombe machen. Räuberleiter geben. Der Wille, selbst Verantwortung zu übernehmen und zu erkennen, dass dies möglich ist. Es wäre ein guter Anfang, gedanklich jedes „Aber“ zu streichen, das uns davon abhält, Dinge einfach mal zu machen. Dann holt man sich ein paar blaue Flecken, aber auch eine Menge Schulterklopfen. Vor allem holt man sich das selbst(verantwortlich). „Erst ausprobieren, dann kritisieren“, „erst anfangen, dann verbessern“. Diese Sprüche sind typisch nordisch. Das ist die Arschbombe. Die reicht allerdings nicht. Denn „frihet under ansvar“ bedeutet nicht, nur für sich allein die Verantwortung zu übernehmen. Wir leben als Menschen immer im Kontext mit anderen, dem Team, der Familie, der Gesellschaft. Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, bedeutet auch immer, Verantwortung für andere zu übernehmen. Das ist the Swedish Way, sich auch um das Wohl des anderen zu kümmern, Räuberleitern zu geben. ***



Die Interviewte: Maike van den Boom ist Deutsche, lebt aber seit zwei Jahren in Schweden. Sie ist Business-Glücksexpertin und hat mehrere Bücher geschrieben. Zudem berät sie Unternehmen in Sachen glückliche Mitarbeiter und tritt als Rednerin auf. Zu dem Umgang der Schweden mit Corona hat sie bereits in ihrem Blog geschrieben.





13.05.2020
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