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Learntec 2014

'Wir erleben eine zweite digitale Revolution'

Social Learning, Wearable Computing und adaptive Systeme – die Kongressmesse Learntec hat im Februar 2014 in Karlsruhe gezeigt, in welche Richtung sich das digitale Lernen entwickelt. Das drastische Fazit: Durch neue Strukturen und Prozesse kommt alles ins Rutschen, was man bisher über Bildung zu wissen glaubte. Das betrifft auch die Rolle der Führungskräfte.

Lernen und professionelle Weiterbildung werden sich in einem bislang unbekannten Ausmaß ändern – und zwar schon bald. Das war die zentrale Botschaft, die vom 4. bis zum 6. Februar auf der 22. Learntec in Karlsruhe den anwesenden Personalentwicklern, Weiterbildungsexperten und Techologie-Anbietern verkündet wurde. Peter A. Henning, Komitee-Mitglied des Learntec-Kongresses, der parallel zur gleichnamigen Technikmesse stattfindet, spricht von einer „zweiten digitalen Revolution“. Wurden bei der ersten Digitalisierung, als Computer die Büros und Lernräume eroberten, zunächst Bücher und Kurse in Bits und Bytes übertragen, vollzieht sich nun ein weit grundlegenderer Wandel, so Henning. Diese zweite Digitalisierungswelle orientiert sich nicht mehr an den Strukturen und Institutionen der analogen Welt, sondern schafft etwas völlig Neues.

Sinnfälligstes Merkmal der zweiten Digitalisierung sind die allgegenwärtigen Smartphones und Tablet-Rechner: Mobiles Internet und soziale Medien durchdringen den Alltag. 'Nahezu jeder von uns ist ständig online, gleichzeitig verlagern wir immer mehr Wissensressourcen ins Netz', erläutert Henning. Dadurch verändert sich die Verfügbarkeit von Informationen und damit auch die Art, wie wir interagieren und lernen. 'Wir müssen uns von den Paradigmen der klassischen Bildung, aber auch des herkömmlichen E-Learnings verabschieden', glaubt der Professor für Informatik an der Universität Karlsruhe. Auf der einen Seite der Lehrer bzw. der E-Learning-Kurs, auf der anderen der Lerner – dieses Modell hat ausgedient.

Von der Industrie- zur Netzgesellschaft


An seine Stelle tritt das, was Trendforscher Peter Wippermann, Professor für Kommunikationsdesign an der Folkwang Universität Essen, in seiner Keynote-Rede als 'Lernen in der Netzgesellschaft' beschrieb. Die Netzgesellschaft, die seiner Ansicht nach die Industriegesellschaft bereits abgelöst hat, ist nicht länger von Hierarchien und Produkten, sondern von den Beziehungen zwischen Menschen geprägt, die Informationen nicht nur abrufen, sondern auch selbst produzieren. Wie sich diese Transformation auf die Bildung auswirkt, beschreibt Wippermann mit drei Thesen. Die erste lautet: Lernen wird interaktiver. Im privaten Umfeld ist das bereits Realtät, so der Trendforscher: Der Erwerb von neuen Kenntnissen und Kompetenzen geschieht dort, indem man jemanden fragt oder Empfehlungen folgt, sei es in direktem Kontakt oder durch Social Media.

Dieses sogenannte Soziale Lernen könnte auch in Unternehmen eine entscheidende Rolle spielen, erklärt Wippermann, zum Beispiel in Form von Peer Learning von Kollegen, in virtuellen Communitys oder im Austausch mit Experten. In der Praxis wird es aber kaum begünstigt, in vielen Unternehmen herrscht häufig noch das industrielle Lernen vor, das auch Schule und Hochschule nach wie vor prägt: ein Auswendiglernen, das der Steigerungslogik 'mehr in kürzerer Zeit' folgt und kaum Raum für Kreativität lässt. Das passt umso weniger zu den Lernbedürfnissen von heute, als angehäuftes Wissen im Businesskontext eine immer kürzere Halbwertszeit hat, erklärt Wippermann. Reichte früher die Erstausbildung für ein ganzes Berufsleben, müssen nun Informationen und Kompetenzen ständig auf den neusten Stand gebracht werden.

Wippermann geht daher – so seine zweite These – davon aus, dass Lernen zunehmend integriert, also situativ und kontextbezogen, stattfinden wird. Das heißt, dass man in naher Zukunft immer weniger auf Vorrat lernt, sondern durch Assistenzsys­teme immer die Informationen bekommt, die man gerade braucht. 'Zugang zu Wissen wird wichtiger als Fachwissen', so der Trendforscher. Eine Technik, die das möglich machen soll, heißt Augmented Reality. Damit ist die Möglichkeit gemeint, etwa mithilfe eines Smartphone-Bildschirms Informationen gewissermaßen über die reale Welt zu blenden. Die nächste Entwicklungsstufe der integrierten Technologie war auf der Learntec ebenfalls zu sehen: Gemeint sind die sogenannten 'Wearables', also smarte, freihändig bedienbare Geräte wie die Datenbrille Google Glass. Eine andere intergrierte Anwendung kommt weniger futuristisch daher, punktet aber mit praktischem Nutzen: Der sogenannte 'Lernstift', entwickelt von einem Münchner Start-up, vibriert, wenn man sich verschreibt. 'Solche kontextabhängigen Lernformen werden uns künftig verstärkt beschäftigen', glaubt Wippermann.

Das große U der Weiterbildung


Lernen wird aber nicht nur interaktiver und integrierter, sondern vor allem individueller, so Wippermanns dritte These zum Lernen in der Netzgesellschaft. Dafür sorgen zwei gegenläufige Entwicklungen, wie E-Learning-Experte Lutz Goertz vom Essener MMB-Institut auf dem Kongress darlegte. Für ihn stellt sich die technisch gestützte Weiterbildung als ein großes U dar, dessen Seiten die Pole einer gegenläufigen Entwicklung markieren. Die eine Seite steht dabei für die zunehmende automatisierte Anpassung von Bildungsangeboten, erklärt Goertz: Learning Analytics und die Auswertung von Big Data, also großen Datenmengen, machen es heute schon möglich, den Bedarf an Bildungsinhalten zu messen, Lernstile zu identifizieren und passende Angebote zu machen. Sogenannte Adaptive Systeme justieren den inhaltlichen Zuschnitt, Schwierigkeitsgrad und Frequenz der Angebote jeweils so, wie der Lerner sie gerade braucht und verarbeiten kann. Eine spannende Entwicklung, die aber auch mulmige Gefühle hervorrufen kann, wie Goertz’ Ausführungen zeigten: Die Frage 'Wer bestimmt den Lernprozess?' kann demnach nämlich durchaus mit 'der Computer' beantwortet werden.
 
Doch ein U hat zwei Seiten. Steht die eine für mehr Automatisierung, markiert die andere eine Entwicklung hin zu mehr selbst­organisiertem Lernen, so Goertz. Lerner entscheiden demnach zunehmend selbst, welches Wissen sie brauchen. Und sie eignen es sich nach eigenem Muster in einem selbst bestimmten Prozess an, wie es in konnektivistischen cMOOCs geschieht, bei dem User- und Lehrerrollen nicht getrennt sind und alle von allen lernen. Auch Wikis und Lerndatenbanken sind Teil dieser Entwicklung, in der feste Kurse und Eins-für-alle-Angebote keine Rolle mehr spielen. Automatisierung und Selbstorganisation – was zunächst ein Widerspruch zu sein scheint, ist eher eine parallele Entwicklung, erklärt der E-Learning-Experte. Dabei zielt beides,­ wie die Enden des Buchstabens U, in die gleiche Richtung: auf die zunehmende Individualisierung von Bildung.

Unternehmen müssen individuelles Lernen fördern

An die Stelle der – in Unternehmen meist von oben verordneten – Bildungsvorgaben tritt mit der zweiten digitalen Revolution also eine Vielfalt von neuen Inhalten, Verfahren und Formaten, aus denen sich die zunehmend selbst organisierten Lerner die passenden Angebote herauspicken. Was das für Unternehmen heißt, erläuterte Nele Graf, E-Learning-Expertin von der Mentus GmbH in Braunschweig und Professorin für Personal und Organisation an der Hochschule Erding, auf dem Learntec-Kongress. Ihre Antwort: Führungskräfte und Personalenwickler müssen das individuelle und selbst organisierte Lernen viel mehr stützen, als sie es bisher tun. 'Wir müssen von einer Angebotsorientierung zu einer nachfrageorientierten PE kommen', sagt Graf. Statt des üblichen Kompetenzmanagements müsse das sogenannte 70:20:10-Modell anerkannt werden, demzufolge der größte Teil des Lernens informell geschieht, durch Erfahrung oder durch Austausch mit Kollegen und Experten. Nur ein Zehntel der betrieblichen Bildung erfolgt demnach durch formelle Schulungen, wo aber immer noch das Hauptaugenmerk der Unternehmen liegt, während die wichtigsten Ressourcen für eine zielgerichtete Weiterbildung brachliegen.

Um das zu ändern, empfiehlt Graf, das Hauptaugenmerk der betrieblichen Weiterbildung auf die Lernkompetenz der Mitarbeiter zu legen, um diese in die Lage zu versetzen, sich das benötigte Wissen selbst gesteuert und in Kooperation mit Kollegen verschaffen zu können. Dazu gehört auch die Formulierung und konsequente Verfolgung von selbst gesteckten Lern- und Entwicklungszielen, die mit der Unternehmensstrategie in Einklang stehen. 'Was brauch ich, wo will ich hin – diese Frage müssen Mitarbeiter lernen, zu beantworten', beschreibt Graf die Verantwortung, die dem Einzelnen in der Lernwelt der Zukunft zukommt. Führungskräfte hingegen müssen, gewissermaßen als Coachs, diesen Lernprozess unterstützen, indem sie Wertschätzung zeigen und als Vorbild wirken. Personalentwickler übernehmen dabei die Rolle des Wissensbrokers, der Angebote zur Verfügung stellt. Zusätzlich braucht es eine Unternehmenskultur, die Freiheiten zulässt und eine tolerante Fehlerkultur pflegt – und in der Belohnungs- und Bestrafungssysteme nur flankierende Funktion für die Selbstorganisation innehaben. Die zweite digitale Revolution mag schon Realität sein, bis sie in Unternehmen ankommt, das zeigte die Learntec 2014, ist jedoch noch viel zu tun.

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